XII – Fazit und Thesen

Nach einem Semester der Beschäftigung mit Epidemien in historischer Perspektive, während die Welt um uns herum gleichzeitig aktuell mit einer Pandemie kämpft, gibt es einige abschließende Beobachtungen, die wir als (angehende) Geschichtswissenschaftlerinnen zu laufenden Debatten beitragen können.
Erstens die Feststellung, dass Epidemien eher eine historische Normalität darstellen, als einen Sonderfall. Der Umgang mit ihnen aber ist es, der sich in den letzten hunderten Jahren deutlich verändert hat. Wobei, hat er das tatsächlich so grundlegend?
Vor dem Aufkommen der Bakteriologie etablierten sich vor allem Isolierungs- und Distanzierungsmaßnahmen (Quarantänen, Ausgeh- und Kontaktverbote), um Infektionsdynamiken einzudämmen. Auch heute sind dies noch die populärsten (weil effektivsten) Instrumente der Exekutive, welche in Krisenzeiten wie dieser unwillkürlich die Stunde ihrer größten Vollmachten erlebt. Krankheitsvorbeugungen der Vergangenheit wie das auf der Miasmen-Theorie aufbauende Ausräuchern der „schlechten“ Luft (Vgl. Beitrag III: „Die Pest in der Frühen Neuzeit – alte Probleme, neue Lösungen?“) oder das Gurgeln mit bestimmten Tinkturen (Vgl. Beitrag V: „Epidemien und Seuchenbekämpfung in anderen Kulturen: Osmanisches Reich und Japan“) scheinen unaufgeklärten Epochen anzugehören. Allerdings tauchten im März in zahlreichen europäischen Staaten Falschmeldungen im Internet auf, die darüber berichteten, das Rauchen von Zigaretten oder das regelmäßige Gurgeln mit Salzwasser oder Essig könnten Covid-19-Viren abwehren oder gar abtöten. (Zur Analyse der Desinformationsströme in Europa: https://covidinfodemiceurope.com/.) Als Historikerin fragt man sich hier: Gibt es etwa eine Art archaisches Kollektivgedächtnis, aus dem Miasmen und Tinkturen doch nicht so einfach zu vertreiben sind?
Ein solches kollektives Gedächtnis zeigt sich gerade in Zeiten der Unsicherheit, in denen nicht nur solche relativ harmlosen Falschinformationen wie zu Beginn der derzeitigen Pandemie, sondern auch, wie in den letzten Monaten zunehmend, Verschwörungstheorien und sogar mittelalterliche Legenden von Ritualmorden und geheimen Mächten, übersetzt in die Sprache des 21. Jahrhunderts, zunehmend in Umlauf gerieten (Vgl. Beitrag XI: „Covid-19 und Verschwörungstheorien – Das Geschichtsverständnis der Corona-LeugnerInnen in Deutschland“).

Solcherlei auftretende Narrative sind eng verbunden mit gesellschaftlichen und individuellen Ängsten – eine Geschichte der Angst müsste Teil einer Geschichte der Epidemien sein, und umgekehrt. Vor allem Bewältigungsstrategien gegen aufkommende Panik sind während Pandemie-Szenarien zu beobachten. Sozialgeschichtlich gibt es zwar keine eindeutige Evidenz dafür, dass Epidemien gesellschaftliche Unruhen, Aufstände und Proteste produzieren (Vgl. Beitrag II), allerdings beobachten wir bis heute die erwähnten Rückgriffe auf obsolet geglaubte Heilmittel und Ideologien, wenn es darum geht, die Komplexität einer solchen Bedrohungssituation zu bewältigen. Auf der sprachlichen Ebene halten sich außerdem von der Politik genutzte militärische Analogien, wenn es um die Kommunikation und Rechtfertigung von Hygiene-Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung geht: insbesondere der französische Staatspräsident Macron fiel durch Rekurse auf martialische Bildsprache Anfang des Jahres auf (https://de.ambafrance.org/Fernsehansprache-von-Staatsprasident-Emmanuel-Macron-zum-Coronavirus-Covid-19). In Deutschland ist diese Begriffsebene aufgrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts nur abgeschwächt vertreten (Vgl. Beitrag VIII), taucht jedoch ebenfalls auf (weniger auf der offiziellen Ebene, sondern eher in Meinungsbeiträgen wie z.B. diesem Kommentar in der FAZ vom 04.07.2020: https://www.faz.net/aktuell/wissen/was-kann-der-schon-der-virologe-16838942.html).

Eine weitere „Bewältigungsstrategie“ stellt die Externalisierung von Krankheit und „Unsauberkeit“ dar (Vgl. Beitrag I). Das östliche Europa und Asien wurden in besonderem Maße mit Krankheiten verbunden und spätestens seit dem 18. Jahrhundert als hygienisches Notstandsgebiet und Ansteckungsraum kategorisiert (Vgl. Beiträge II, V, VII, VIII).
Dass diese alten Schablonen vielfach aufgegriffen und fortgeschrieben wurden, zeigt sich auch während der derzeitigen Pandemie: China als Ursprungsort von Covid-19 wurde exotisiert und diffamiert, (vermeintliche) chinesische ImmigrantInnen sahen sich als Sündenböcke Bedrohungen und Beleidigungen ausgesetzt (https://time.com/5858649/racism-coronavirus/). Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass Epidemien schon seit dem 19. Jahrhundert immer mehr zu globalen Medienereignissen wurden (Vgl. Beitrag VII, X), und dies nun, im Internetzeitalter, wie schon geschildert, zu unkontrollierbaren fake news-Dynamiken und aufkommendem Hass führt, der sich von der digitalen in die analoge Welt übertragen kann.

Insgesamt nimmt die Bedeutung von Epidemien als Erklärungsmodell für historische Prozesse aufgrund der Verschiebung von einer reinen Ereignisgeschichte hin zu strukturellen Diskursbetrachtungen eher ab. Während der aktuellen Pandemie tauchen allerdings neue Phänomene wie Querfront-Proteste auf (Vgl. Beitrag XI), und bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, die eine solche Krise mit sich bringen, werden erstmals stärker beobachtet und mitbedacht: dass Frauen die größten „Verliererinnen“ der Corona-Zeit sind, wird schon jetzt postuliert. Sie waren durch den Lockdown der deutlichsten Mehrfachbelastung durch Home Office und Ausfall der Kinderbetreuung ausgesetzt, machen den Großteil der „systemrelevanten“ Arbeitskräfte in Pflege und Grundversorgung aus; außerdem stiegen die Fälle häuslicher Gewalt und viele Prostituierte verloren häufig nicht nur ihre Überlebensgrundlage, sondern auch ihre Wohnmöglichkeiten (https://taz.de/Corona-ist-weiblich/!5670768/, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5049, https://www.unwomen.de/helfen/helfen-sie-frauen-in-der-corona-krise/corona-eine-krise-der-frauen.html). Diese Probleme wird es auch in der Vergangenheit aufgrund von Seuchen gegeben haben, doch eine Geschlechtergeschichte der Epidemien bleibt, wie so vieles, noch zu schreiben.

Wir hoffen, mit diesem Blog zumindest einige verschiedene historische Aspekte von Epidemien beleuchtet, ihre Bezüge zur Gegenwart verdeutlicht, und zur weiteren Diskussion angeregt zu haben. Zum Abschluss bleibt uns wiederum nur der Wunsch:
Bleibt gesund!

XI – Covid-19 und Verschwörungstheorien – Das Geschichtsverständnis der Corona-LeugnerInnen in Deutschland

So sehr historische Vergleiche die Debatte um den Umgang mit Corona auch bereichern können, bleibt die derzeitige Lage doch in vielerlei Hinsicht singulär, und so auch mit Blick auf die derzeit grassierenden Verschwörungstheorien rund um die Pandemie und ihre vermeintlichen „Verursacher“. Während vergangener Epidemien wurden, befeuert durch antijüdische Traditionen und später auch schon moderne antisemitische Ressentiments, zwar ebenfalls Sündenböcke gesucht und in den Juden gefunden, allerdings parallel zu schon stattfindenden Pogromen, wie zur Zeit der Pest (Vgl. Beitrag Nr. II auf diesem Blog „Die Pestepidemie von 1345/53 – Erklärungsmechanismen und die Frage der Schuld“) oder im Zusammenhang mit einem aufkeimenden staatlich-institutionellen Antisemitismus, wie im deutschen Kaiserreich (Vgl. Beitrag Nr. VIII „Robert Koch und sein Institut – Der Aufstieg der Bakteriologie und ihrer Kriegsrhetorik, 1880-1918“).
Die aktuelle Pandemie findet dagegen einerseits in einer Gesellschaft statt, die nach dem Zivilisationsbruch durch Auschwitz keinen allzu offensichtlichen Antisemitismus mehr duldet, die aber andererseits geprägt ist durch die Verbreitung von Information und Desinformation über soziale Netzwerke. Gerade in dieser Zeit der Krise, in denen die meisten Menschen über Monate hinweg den Großteil ihres Berufs- und Privatlebens ohnehin in die digitale Welt verlagern, lassen sich daher Tendenzen beobachten, mit denen die mit ihnen konfrontierten Demokratien noch keinen Umgang zu finden scheinen.

Die Rede ist von Demonstrationen gegen die Hygiene-Auflagen, die in diesem Jahr von der Bundesrepublik und ihren europäischen Nachbarn durchgesetzt wurden. Diskussionen über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen gab es zwar überall, und in einigen Ländern erhob sich Protest gegen bestimmte Aspekte der Krisenführung – beispielsweise fanden im Frühjahr in Sloweniens Hauptstadt Ljubljana Fahrraddemonstrationen gegen mutmaßlich veruntreute Gelder bei der Beschaffung von Schutzmasken und Beatmungsgeräten statt, und Menschen in Pariser Banlieues gingen währenddessen gegen soziale Ungleichheit auf die Straße. [1] Doch gleichzeitig entwickelten sich in der digitalen Welt Narrative für diejenigen, denen all diese Probleme zu komplex und überfordernd waren: aufbauend auf schon bestehenden Verschwörungsideologien wie dem Glauben an eine Weltherrschaft durch eine globale Elite wurden diese weiterentwickelt, um das aktuelle Geschehen als „Plandemie“, also eine Verschwörung der Regierung gegen die eigene Bevölkerung, abtun zu können. Antisemitische Posts, Kommentare, Memes und Karikaturen verbreiteten sich schon seit Ende Januar dieses Jahres und trugen dabei oft eigentlich widersprüchliche Botschaften: teils hieß es, der Virus sei inexistent und nur ein Macht- und Kontrollinstrument einer globalen Elite, dann wiederum, es gebe ihn, doch er sei von dieser Elite im Labor erschaffen worden. [2] In deutschen verschwörungsideologischen Milieus setzte sich erstere Theorie eher durch, da sie mit schon bekannten Anschuldigungen derjenigen politischen InteressentInnen verbunden werden konnte, die in den vergangenen Jahren zu PEGIDA-Demonstrationen gingen oder zu Wählern und Mitgliedern der AfD wurden. Die Vorwürfe gegenüber Merkel und ihrer Regierung, ihre BürgerInnen einer „Meinungsdiktatur“ hinsichtlich der Flüchtlingskrise oder des Klimawandels zu unterwerfen, ließ sich mit der Angst vor den tatsächlichen persönlichen Einschränkungen durch Lockdowns oder sonstige Maßnahmen gut verbinden, die von diesem Klientel wiederum als tatsächliche „diktatorische Eingriffe“ wahrgenommen wurden und werden. Durch das dadurch wiederum befeuerte Gefühl, Opfer zu sein, entwickelte sich eine Dynamik, die dazu führte, sich auf Demonstrationen gegen die Hygiene-Maßnahmen zunehmend auch als solches zu inszenieren.

Dort sieht man sich allerdings nicht nur als Opfer von Merkel, sondern von eben jener imaginierten globalen Elite, der unterstellt wird, unter dem Deckmantel einer Corona-Vakzine Massenimpfungen durchführen zu wollen, mit denen die Bevölkerung, finanziert durch Bill Gates, mit Chips versehen werden solle, um sie zu kontrollieren oder sogar zu vergiften. Beispielhaft illustriert wird diese Verschwörungstheorie durch eine Zeichnung des US-amerikanischen Karikaturisten Ben Garrison, dessen Arbeiten des Öfteren von AnhängerInnen der Alt Right-Bewegung aufgegriffen und verbreitet werden. Man sieht darauf Bill Gates, der den Ablaufplan zu seiner „Plandemie“ präsentiert, am Revers einen Totenkopf trägt und zeigt, man sei gerade bei dem Schritt angekommen, Trump die Schuld zu geben, nachdem schon Zensur und Shutdown stattgefunden hätten; und dass im letzten Schritt (wohlgemerkt nicht mit Nr. 6 sondern Nr. 666 beziffert, einem Hinweis auf die angeblich uns beherrschenden „satanischen Sekten“) obligatorische Impfungen geplant seien:

Trump tritt hier nicht zufällig ebenso als ein Opfer auf: Die auch in Deutschland unter Corona-LeugnerInnen beliebte QAnon-Theorie bezieht sich auf die anonyme Signatur „Q“, unter der seit Herbst 2017 auf Imageboards wie 4chan Beiträge von einer Person verfasst wurden, die laut eigenen Angaben in der US-amerikanischen Regierung arbeite und über Top Secret-Informationen verfüge, die besagen würden, dass es einen deep state, also eine Art Staat im Staate gebe, der aus einer pädophilen Elite bestehe und Ritualmorde an Kindern begehe. Trump sei laut „Q“ Präsident geworden, um diesen Menschen das Handwerk zu legen. Die Anhänger von „Q“ (zu denen beispielsweise auch der Attentäter von Hanau gehörte) betrachten Donald Trump deswegen als Helden, dem gegenüber Kritik immer auf diese angenommenen Pädophilen-Ringe zurückzuführen, und deswegen abzulehnen sei. [3]

Demonstranten in Berlin am 29.08.2020 posieren mit QAnon-Symbolik. Foto: Endstation Rechts.

Eine der Verschwörungs-Erzählungen ist dabei die sogenannte „Adrenochrom-Theorie“, die davon ausgeht, dass Kleinkinder in Amerika und Europa entführt, in unterirdischen Anlagen gefoltert und missbraucht, und anschließend getötet würden, um aus ihrem Blut das Stoffwechselprodukt Adrenochrom zu gewinnen, durch dessen Einnahme der Alterungsprozess verlangsamt werden könne. [4] Diese Neuschreibung der aus dem Mittelalter stammenden antijüdischen Legende vom „Ritualmord“ wird auch durch einen der prominentesten Vertreter der Corona-Leugner auf sozialen Netzwerken weiter verbreitet: Der Kochbuchautor und Verschwörungsideologe Atilla Hildmann postet täglich auf seinem Telegram-Kanal, der mittlerweile über 82.000 AbonnentInnen zählt, Verschwörungstheorien, die bei dieser anfangen, aber nicht aufhören – neben beliebten „Q“-Botschaften ist dort auch die Rede davon, Angela Merkel sei eine Enkelin Stalins und gleichzeitig bolschewistische Jüdin, oder davon, dass Deutschland immer noch besetzt sei, weil es nach dem Zweiten Weltkrieg nie einen Friedensvertrag gegeben habe. Hildmann ist jedoch nicht nur online aktiv, sondern tritt regelmäßig in Berlin bei Demonstrationen auf. Auch bei der letzten großen Demonstration, die am 29. August je nach Schätzung zwischen 20.000 und 40.000 Protestierende aus dem gesamten Bundesgebiet in die Hauptstadt lockte, sprach Hildmann, diesmal vor der russischen Botschaft, und rief Präsident Putin um einen Friedensvertrag an, bevor er vorübergehend festgenommen wurde.

Attila Hildmann vor der russischen Botschaft am 29.08.2020 [5]

Die Forderung eines Friedensvertrages ist Teil eines ganz besonderen Geschichtsverständnisses, das dem Milieu der sogenannten „Reichsbürger“ zugehörig ist. [6] Makabre Geschichtsverständnisse finden sich jedoch nicht nur bei „Reichsbürgern“, die auf Demonstrationen der Corona-LeugnerInnen regelmäßig anzutreffen sind, sondern waren auch schon Teil kleinerer Demonstrationen im Frühling dieses Jahres. Bei größeren Protesten im Mai und Juni wurden verschiedenste Symboliken immer wieder durcheinander gemischt: Leute trugen (mutmaßlich in satirischer Absicht) Pestmasken, hefteten sich „Judensterne“ mit den Aufschriften „ungeimpft“ oder „Corona“ an, und mischten dies mit Botschaften gegen Bill Gates (wie der Mann auf dem untenstehenden Foto, der ein „Kill Bill“-Halstuch trägt) oder QAnon-Zeichen.

Ein Teilnehmer einer Demonstration von „Corona-Rebellen“ am 9. Mai 2020 in München [7]

Das Tragen sogenannter „Judensterne“ kam auf Demonstrationen in München so häufig vor, dass die Stadt Ende Mai ein mit einem Bußgeld belegtes Verbot aussprach. [8] (Ohne direktes Verbot ist die strafrechtliche Verfolgung einer solchen Symbolik nicht möglich, da sie keine formale Holocaust-Leugnung darstellt, sondern „lediglich“ eine Relativierung, indem man sich selbst als Opfer von Terror, Diktatur und Genozid inszeniert.)
Ebenso wurden immer wieder auch auf mitgebrachten Schildern von den DemonstrantInnen historische Vergleiche gezogen: Bill Gates wurde beispielsweise mit Dr. Mengele parallelisiert, einem nationalsozialistischen Arzt, der in Auschwitz menschenverachtende medizinische Experimente zu Impfstoffen an Häftlingen durchführte.

Demonstration auf dem Münchner Marienplatz, Mai 2020.

Ebenso gab es Plakate mit Aufschriften wie „Endlösung der Coronafrage = Impfstoff“. Hier wurde und wird also immer wieder ein möglicher Impfstoff gegen Covid-19 nicht nur mit Diktatur, sondern mit der massenhaften Verstümmelung und Ermordung von Menschen während der Shoah parallelisiert.
Erklären lasse sich dies möglicherweise mit der andauernden Schuldabwehr, die immer noch viele Deutsche beschäftige, so Dr. Annette Seidel-Arpacı, der Leiterin der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS). Man sehne sich danach, endlich einmal selbst Opfer zu sein, oder sich zumindest als solches zu inszenieren, so Seidel-Arpacı. [9]

Von der Bundespolitik aktiv wahrgenommen und kritisiert wurde dieses Spiel mit Symboliken erst bei dem versuchten „Sturm auf den Reichstag“ am 29. August, als im Zuge einer Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen in Berlin etwa 300 Personen auf die Treppe des Reichstagsgebäudes stürmten, viele von ihnen mit Reichsflaggen in der Hand. Auch diese fungieren nicht nur als historisches Symbol, sondern auch als konkretes politisches Statement: Die schwarz-rot-goldene Fahne, die auch die der heutigen Bundesrepublik ist, wurde schon von der Weimarer Republik genutzt; von Joseph Goebbels als „Judenlappen“ diffamiert und von den Nationalsozialisten abgeschafft, die, bis das Hakenkreuz 1935 zur offiziellen Fahne wurde, die Reichsflagge dieser gleichberechtigt zur Seite stellten. Heute gilt die schwarz-weiß-rote Fahne unter Rechtsextremen wiederum als legale Alternative zur Hakenkreuz-Flagge. [10] Die Symbolik ist also auch hier alles andere als uneindeutig.

„Corona-Skeptiker“ am 29.08.2020 mit Reichsflaggen vor dem Reichstagsgebäude [11]

Proteste gegen die Maßnahmen der Regierung, insbesondere Einschränkungen des öffentlichen Lebens und die Verordnung des Tragens von Masken, gibt es auch in anderen europäischen Staaten wie Italien, Spanien, den Niederlanden, Rumänien und England. Die Kundgebungen bleiben dort allerdings vergleichsweise sehr klein. In Serbien und Schweden wurde sogar für härtere Maßnahmen demonstriert, da die Bevölkerung ihren Regierungen und deren Lockerungen die Schuld an neuerlichen Infektionswellen gibt. [12]
In Polen kam es im September in mehreren Städten zu Protesten unter dem Motto „Stoppt die Plandemie! Keine Lügen mehr!“ („Zakończyć plandemię! Dość kłamstw!“), deren TeilnehmerInnen, ähnlich wie in Deutschland, Hygiene-Maßnahmen als eine Art Gehirnwäsche ablehnen und Covid-19 als Fantasieprodukt beziehungsweise Herrschaftsinstrument beurteilen. [13] [14] [15] Die Protestierenden artikulierten dort ebenfalls Verschwörungstheorien, benutzen aber keinerlei ähnlich geartete historische Symbolik wie die deutschen DemonstrantInnen.
In Polen [16] wie auch in Tschechien [17] wurde allerdings über die Proteste Ende August in Berlin berichtet. In der polnischen überregionalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza erschien gar ein sehr besorgter Artikel, der im Titel von einer „Gefährlichen Bewegung über Spaltungen hinweg“ („Płaskoziemcy wstają z kolan. Niebezpieczny ruch ponad podziałami“) sprach, und in dem die entstehende Querfront zwischen Verschwörungsideologen und „traditionellen“ Faschisten in Deutschland betrachtet wurde. [18]

Reichsflaggen, Pestmasken, „Judensterne“, Holocaustvergleiche und Ritualmordlegenden in der Sprache des 21. Jahrhunderts: So sehr die deutschen Proteste sich ein Amalgam historischer Bezugnahmen zusammenkleistern, um ihre Entrüstung zu rechtfertigen und zu artikulieren, so wenig gibt es die Möglichkeit eines historischen Vergleichs für das, was momentan passiert. Sebastian Sommer, der Moderator des Arbeitskreises »Rechte ­Protestmobilisierung« am Institut für ­Protest- und Bewegungs­forschung in Berlin, spricht von einer „nie dagewesenen Situation“, deren strukturelle Vorgänger sich erst in der nahen Zeitgeschichte fänden, beispielsweise den „Friedensmahnwachen“ oder Demonstrationen gegen die Aufnahme Geflüchteter im Jahr 2015. Die Verbreitung von Desinformation im Kontext der Pandemie sei „für viele ein Türöffner in verschwörungsgläubige Kreise“ gewesen; mehr Menschen würden sich nun über sogenannte „alternative Medien“ informieren, was eine Gefahr darstelle. [19]

Für HistorikerInnen bedeutet dies, die Proteste und auch ihre langfristigen Auswirkungen im Auge behalten zu müssen. Die Nutzung historischer Symboliken kann, wenn sie stark genug instrumentalisiert wird, teilweise sogar zu einer neuen Konnotation führen (als Beispiel hierfür denke man an die „Wir sind das Volk“-Rufe und Jours fixes am Montagabend, bei denen jetzt nicht mehr nur an den Aufstand gegen das DDR-Regime, sondern auch an PEGIDA-Demonstrationen gedacht wird). Erinnerungskultur ist nicht statisch. Und spätestens, wenn unsere östlichen Nachbarn mit Sorge zu uns herüberschauen und die Anzahl antisemitischer Straftaten ansteigt [20] [21], sollten wir uns dafür verantwortlich fühlen, die deutschen Proteste und das ihnen inhärente Geschichtsverständnis kritisch zu betrachten und dabei nicht zu unterschätzen; oder die Teilnehmenden als „Spinner“ und „Covidioten“ zu entpolitisieren. [22] Für den kommenden 3. Oktober, natürlich wiederum einen historisch aufgeladenen Tag, haben sowohl die Initiative „Querdenken 711“ (deren Organisator Michael Ballweg auch den Protest am 29. August anmeldete) als auch die rechtsextreme Organisation „Patriotic Opposition Europe“, die neonazistische Kleinstpartei „III. Weg“ und die Reichsbürger-Bewegung „Staatenlos“ Demonstrationen angemeldet. [23] Wegzuschauen ist keine Option.

[1] https://www.dw.com/de/corona-proteste-ein-deutscher-sonderfall/a-53428039

[2] British Community Security Trust: Broschüre „Coronavirus and the Plague of Antisemitism”, als PDF unter: https://cst.org.uk/data/file/d/9/Coronavirus%20and%20the%20plague%20of%20antisemitism.1586276450.pdf

[3] https://www.nbcnews.com/tech/tech-news/how-three-conspiracy-theorists-took-q-sparked-qanon-n900531

[4] https://www.derstandard.de/story/2000117663175/was-ist-dran-an-der-adrenochrom-verschwoerung

[5] https://www.fr.de/meinung/kolumnen/attila-hildmann-coronavirus-corona-koch-verschwoerungen-merkel-china-donald-trump-13748885.html

[6] https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/210330/zwischen-verschwoerungsmythen-esoterik-und-holocaustleugnung-die-reichsideologie

[7] https://jungle.world/artikel/2020/22/bill-gates-dr-mengele

[8] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/muenchen-verbietet-judenstern-auf-corona-demos/

[9] Webinar: „Antisemitismus in Zeiten von Corona“ der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern am 03.06.2020, abzurufen unter: https://www.youtube.com/watch?v=OzEjW5nZvbE&ab_channel=IsraelinMuenchen

[10] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/gefaehrliche-masse/

[11] https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-skeptiker-stuermen-durch-absperrung-zum-reichstag-16928759.html

[12] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-demos-spanientrump-bolsonaro-100.html

[13] https://www.bankier.pl/wiadomosc/W-Warszawie-protest-przeciwko-restrykcjom-zwiazanym-z-koronawirusem-7961063.html

[14] https://dziennikzachodni.pl/dosc-tresury-maseczkowej-w-sosnowcu-odbyl-sie-protest-przeciw-obostrzeniom-koronawirusowym-nie-wierza-w-covid19-tylko-w-spisek/ar/c1-15165354

[15] https://tvn24.pl/tvnwarszawa/najnowsze/warszawa-marsz-zakonczyc-plandemie-dosc-klamstw-4690480

[16] https://wgospodarce.pl/informacje/83318-koronawirusowi-mowia-halt

[17] https://www.novinky.cz/koronavirus/clanek/v-berline-vlaji-vlajky-ruska-usa-i-tolerance-tisice-odpurcu-covidovych-opatreni-vysly-do-ulic-40334760

[18] https://wyborcza.pl/7,75399,26252729,plaskoziemcy-wstaja-z-kolan-niebezpieczny-ruch-ponad-podzialami.html

[19] https://jungle.world/artikel/2020/34/eine-diffuse-politische-empoerung

[20] https://www.tagesschau.de/inland/antisemitismus-straftaten-101.html

[21] https://www.allgaeuer-zeitung.de/bayern/mehr-judenfeindliche-vorf%C3%A4lle-in-bayern-liegt-es-an-corona_arid-225144

[22] https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-und-die-debatte-um-covidioten-es-gibt-nichts-zu-diskutieren-a-bcd8c211-0113-48e8-829f-8629f466326f

[23] https://jungle.world/artikel/2020/36/im-wahn-vereint

X – Pest und Corona – Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft

Die Corona-Krise hat das Leben der ganzen Welt auf den Kopf gestellt. Mund-Nasen-Schutz und Desinfektionsmittel ist zu einem alltäglichen Begleiter geworden. Jedoch ist dies nicht die erste und letzte Pandemie oder Epidemie in der Menschheitsgeschichte. Die beiden Ärzte und Medizinhistoriker Heimer Fangerau und Alfons Labisch erörtern in ihrem Buch „Pest und Corona – Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft“ von 2020 frühere und aktuelle Pandemien und stellen diese in einen aktuellen Kontext und Vergleich zu Covid-19.

Gab es bereits Pandemien wie diese? Wie sind die Menschen früher mit Krankheitswellen dieser Art umgegangen? Hat sich etwas an der Handhabung verändert? Ist Covid-19 so gefährlich und ein „echter Killer“ wie er oft in den Medien beschrieben wird? Wie wird das soziale und öffentliche Leben beeinflusst und verändert? Wie wird es in der Zukunft weitergehen und worauf müssen sich die Menschen vorbereiten? Das alles sind Fragen mit denen sich die beiden Autoren in ihrem Buch auf 192 Seiten beschäftigen.

Fangerau und Labisch informieren in insgesamt 8 Kapiteln über frühere Epidemien und Pandemien, über die Gesundheitssicherung während solch verheerender Krankheitswellen, über die Auswirkungen im öffentlichen Leben und deren Spannungsfelder zwischen Gesundheit und Gesellschaft, als auch über Ausbreitung und Abwehr und einen Ausblick in die Zukunft. All diese Themen untermauern sie mit Zahlen und Fakten und setzen sich kritisch damit auseinander. Vor allem die gesellschaftlichen und politischen Aspekte werden detailliert diskutiert und bewertet, als auch in Zusammenhang zu aktuellen Geschehnissen und Entwicklungen in der Coronakrise gesetzt.

Ein Kapitel beschäftigt sich mit der allgemeinen Diskussion, ob Corona als „skandalisierte Krankheit“ bezeichnet werden kann oder ein „echter Killer“ ist. Durch die heutigen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten, können jegliche Geschehnisse auf der Welt in Echtzeit verfolgt werden. Zahlreiche Bilder und Videos kursieren täglich durch das Internet und verbreiten den „Schrecken“ und die „Angst“ durch die Gefahren der Krankheit in bildlicher Form: Massengräber in der USA, unzählige Tote in Italien und zahlreiche Leichen die gemeinsam verbrannt werden. Bilder und Videos wie diese lösen eine gewisse Panik und Angst in den Menschen aus und die tägliche Berichterstattung in den Medien über das Coronavirus verstärkt diese nur zusätzlich. Nach Feststellung von Fangerau und Labisch ist Corona mit ihren Todeszahlen jedoch weit unten in der Liste der tödlichsten Krankheiten die aktuell auf der Welt herrschen. Krankheiten wie Malaria oder Diarrhöe stehen weitaus höher mit ihren Todeszahlen, sind jedoch kaum präsent in den Medien. Demnach könnte man Covid-19 als „skandalisierte Krankheit“ einstufen. Wie man aber bereits bei den SARS- und MERS-Epidemien sehen konnte, ist die Infektionsrate dieser Art von Virus sehr hoch. Schränkt man die Ausbreitung nicht frühzeitig ein, könnten laut der beiden Autoren, weitaus mehr Menschen sterben, da die Gesundheitssysteme überlastet wären und man die Infizierten nicht mehr ausreichend behandeln könnte. Demnach wird Corona von ihnen teilweise als „skandalisierte Krankheit“ eingestuft, aber auch teilweise als „echten Killer“.

Zum Schluss beinhaltet es noch einen Ausblick und Denkanstöße für die zukünftige Handhabung mit Krankheitswellen. Sie stellen fest, dass sich durch internationalen Handel und interkulturellen Austausch die Eindämmung schwieriger gestaltet, als noch vor einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten, was jedoch das wichtigste ist, um eine globale Krise zu verhindern. Die Krankheiten müssen direkt an ihrem Ausbruchsort eingedämmt und die Ausbreitung verhindert werden. Im gesamten ist das Buch „Pest und Corona“ eine gute Informationsquelle für junge Erwachsene und Erwachsene, wenn man sich einen allgemeinen Überblick über die aktuelle Lage und etwas Hintergrundwissen zu Epidemien und Pandemien einholen möchte. Das Buch ist sehr einfach verständlich geschrieben und basiert auf Fakten und Daten, als auch der persönlichen Einschätzung der beiden Ärzte und Medizinhistorikern. Die einzelnen Kapitel sind auch relativ kurz und auf das wichtigste beschränkt, was einem erleichtert einen allgemeinen Überblick und erste Einblicke in das Thema zu erhalten.

Fangerau Heiner, Labisch Alfons: Pest und Corona. Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Verlag Herder GmbH. Freiburg im Breisgau. 2020

IX – Corona und die orthodoxe Kirche: Resakralisierung der Staaten?

Epidemien und Pandemien gab es bereits während der gesamten Menschheitsgeschichte und haben jeden Winkel der Welt erreicht. Es ist definitiv kein neues Phänomen. Wie wir auch an den früheren Beispielen gemerkt haben, hat sich die Handhabung mit diesen im Wesentlichen nicht verändert. Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung von epidemischen Krankheiten sind weiterhin zum größten Teil geprägt durch die frühzeitige Erkennung und Isolation der Erkrankten. Leider gibt es einige Staaten, Regionen oder religiöse und ethnische Gruppen die dies nicht allzu ernst nehmen. Beispiele hierfür haben wir in unserem Seminar am 06.07.2020 behandelt. Dabei stellten wir uns die Frage wie vor allem die russisch-orthodoxe Kirche auf die Maßnahmen gegen die Corona Pandemie der Staaten reagierte. Hierfür schafften wir uns zuerst einmal einen allgemeinen Überblick über die Lage in den Staaten deren Hauptreligion christlich orthodox ist, wie zum Beispiel Russland, Weißrussland oder die Ukraine. Weiterhin gingen wir auf die Reaktionen zu den Maßnahmen und auf die religiösen Riten ein und verglichen diese mit der Kirche und ihren Reaktionen in Deutschland. Zum Schluss eröffneten wir eine Diskussionsrunde dessen Ergebnisse ich hier erläutern werde.

Erst einmal zur allgemeinen Lage (Stand 06.07.2020):

In Moskau zum Beispiel wurden mehr als die Hälfte aller Infektionen in Russland registriert. Aufgrund der wachsenden Infektionszahlen mit dem Coronavirus wurde von seitens der Gesellschaft weitgehend auf den Gottesdienstbesuch verzichtet und das fast weltweit. Gläubige verfolgten die Liturgie über das Fernsehen oder das Internet, da die Menschen nur zur Arbeit oder in den Supermarkt durften. Nur wenige Menschen besuchten den Gottesdienst, wie z.B. den Ostergottesdienst. Dadurch ist aber gerade bei den christlich orthodoxen Kirchen eine wichtige Einnahmequelle abhanden gegangen. Diese finanzieren sich größtenteils durch den Kerzenverkauf.

Der russische Präsident Wladimir Putin motivierte seinerseits die Bürger zu Hause zu bleiben und zu einem verantwortungsbewussten Verhalten auch seitens der Kirche. Diese rief zu hygienischen Maßnahmen auf, wollte aber ihre Gotteshäuser nicht schließen. Ausschließlich Sonntagsschulen und Gemeindekreise wurden ausgesetzt und die Sozialdienste sollten die älteren Menschen unterstützen. Der Patriarch Kyrill I. bat um Zuversicht und Frieden und rief die Bürger ebenfalls auf zuhause zu bleiben, da die Gottesdienste auch online übertragen werden. Hierbei gab es jedoch ein großes Konfliktpotential. Nach Meinung einiger Priester trauten die Behörden der Kirche nicht zu, die Gläubigen vor Ansteckung zu bewahren und einige Geistliche sind sogar mit den Behörden aneinandergeraten. Ein russischer Priester verwies auf die Trennung von Kirche und Staat und fragte warum Menschen einkaufen, aber nicht in die Kirche dürfen. Die ganze Situation führte zu starken Spannungen zwischen Fundamentalisten und Progressiven. Nachdem jedoch sich jedoch immer mehr Priester infizierten wurden manche nachdenklich. Klostervorsteher Sergiev Posad infizierte sich ebenfalls mit dem Coronavirus und ermahnte nach seiner Genesung, dass auch Priester nicht von der Pandemie verschont wären und sich ebenfalls infizieren können. Daraufhin gab es starke Kritik vom russisch-orthodoxen Klerus.

Trotz der steigenden Infektionen innerhalb der Gotteshäuser, blieben diese weiterhin geöffnet, passten ihre Riten jedoch auf die Hygienemaßnahmen an. Der Löffel für die Kommunion wird zum Beispiel nach jeder Austeilung mit Alkohol desinfiziert und bei der Taufe wird das Wasser ausgewechselt und das Becken desinfiziert. Das Kreuz, dass normalerweise geküsst wird, wird am Schluss der Liturgie lediglich über die Gottesdienstbesucher gehalten und bei der Verteilung des Opferbrotes werden Handschuhe getragen. In der russisch-orthodoxen Kirche ist es üblich die Ikonen mit den Lippen zu berühren. Dies ist aktuell jedoch nicht mehr möglich und die Ikonen werden sicherheitshalber regelmäßig desinfiziert.

In der Bevölkerung ist die Auffassung der Unmöglichkeit sich bei einem Gottesdienstbesuch zu infizieren stark verwurzelt. Viele Gläubige der christlich orthodoxen Kirche sind der festen Überzeugung „alles werde gut mit Gottes Hilfe“. Der weißrussische Präsident Lukaschenko hatte zum Beispiel bereits im Vorfeld jegliche Einschränkungen für religiöse Feiern abgelehnt und setzte sich gegen das russische Patriachat indem er Gottesdienste erlaubt, was starke Kritik in der Bevölkerung und dem Klerus auslöste. Bis Mitte Mai hatten sich 56 aus dem Klerus mit Corona infiziert und sind daraufhin verstorben, was zu einem Umdenken in der Handhabung mit dem Virus in der Kirche führte.

In Deutschland hingegen hat die Kirche den Lockdown von Anfang an mit Überzeugung mitgetragen. In der Kirche werden Masken getragen und alle Hygienevorschriften des Staates eingehalten. Manche Menschen wunderten sich lediglich warum man in der Kirche eine Maske braucht, in einem Wirtshaus jedoch nicht. Dies liegt an dem Aerosolausstoß beim Singen und ist deshalb ein Grund für die Maskenpflicht. Und auch in der Kirche in Deutschland gibt es unterschiedliche Meinungen bezüglich eventueller Lockerungen der Maßnahmen und Hygienevorschriften.

In unserer Diskussion stellten wir fest, dass in der Ukraine ebenfalls eine komplexe Situation vorhanden ist. In der dortigen orthodoxen Kirche herrscht eine starke klösterliche Orientierung und deren Mönche widersetzten sich der vom Staat verhängten Coronamaßnahmen, vor allem diejenigen, die monastiel stark mit dem Moskauer Patriarchat verbunden sind. In der Ukraine gibt es drei große Kirchen: Das Moskauer Patriarchat, das Kiever Patriachat und die ukrainisch-orthodoxe Kirche. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine besitzt keinerlei Klöster und unterscheidet sich grundsätzlich von den beiden anderen Kirchen in ihrer Struktur. Trotzdem besteht ein Konkurrenzverhalten zwischen den dreien woraufhin ein allgemeiner Handlungszwang folgt, der gerade in der Coronakrise sehr auffällig wurde. Dementsprechend versuchten die jeweiligen Kirchen den Gläubigen ihre Gotteshäuser attraktiver zu gestalten.

In Weißrussland hingegen, handelte der Staat erst garnicht, womit die Kirche gar keine Maßnahmen befolgen musste. Sowohl Regierung als auch Bevölkerung waren der Ansicht „Corona gibt es garnicht“ oder „Zu uns kommt das nicht“. Der Präsident betonte sogar, dass in den Kirchen nichts passieren könnte und die Menschen die Gottesdienste weiter besuchen sollten, obwohl dieser als eher atheistisch in der Bevölkerung angesehen wird, da er kaum Gottesdienste besucht. Die weißrussische Kirche ist genau wie der Großteil der ukrainischen Kirchen mit dem Moskauer Patriarchat verbunden. Trotz dessen setzte Lukaschenko die vom Patriarchat vorgegebenen Regelungen in den Kirchen nicht um. Sowohl von seitens Russlands, als auch ganz Europa wurde Belarus kritisiert. Trotz der festen Überzeugung Corona wäre nur erfunden, wurden z.B. Besuche von Partneruniversitäten bereits im März/April abgesagt, da es im Westen so viele Coronafälle gebe und man den Virus nicht einschleppen möchte, was in sich widersprüchlich ist.

Ebenfalls ist man in Weißrussland der Auffassung, dass es nur eine Coronapsychose gebe die mit regelmäßigen Saunagängen und Vodka bekämpft werden könne.

Generell kann man davon ausgehen, dass die Statistiken aller drei Staaten kaum überprüfbar sind, da vor allem in Russland die Todeszahlen verhältnismäßig sehr niedrig sind und wir stellten die Vermutung auf, dass die Zahlen nicht korrekt sein könnten. Der Fokus liegt auch hauptsächlich auf Moskau und St. Petersburg und Zahlen und Berichterstattungen aus anderen Gebieten sind kaum vorhanden.

Wir stellten uns daraufhin die Frage woran dies liegen könnte und brachten die niedrigen Zahlen in Verbindung mit den bevorstehenden Wahlen zur Verfassungsänderung in Russland. Dort sollte abgestimmt werden, ob der Präsident in Zukunft auf Lebenszeit gewählt werden kann. Wären hohe Todeszahlen durch mangelnde Maßnahmen und Regelungen mit der Coronakrise negativ für die Wahl ausgefallen? Hätte man die Wahlen während dieser Zeit überhaupt abhalten können oder dürfen? Mit hohen Todeszahlen wäre dies vermutlich in Frage gestellt worden.

Sowohl Russland, als auch Ukraine und Weißrussland gelten als säkulare Staaten. Vor allem in der Sowjetzeit wurden staatliche Angelegenheiten strikt von der Kirche getrennt. Also wie kommt es überhaupt, dass die orthodoxe Kirche so einen massiven Einfluss auf die heutigen Staaten hat? Warum spielt Religion eine dominante Rolle in den Gesellschaften? Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschten Unruhen, Krieg und Chaos in den meisten postsowjetischen Staaten. Im Laufe der Zeit hat man bereits in vielen Teilen der Welt eine Resakralisierung in der Gesellschaft nach schweren Zeiten beobachten können. Jede Gesellschaft reagiert sehr unterschiedlich darauf, jedoch ist sicher, dass dies eine Begründung für den wiederaufkommenden Glauben in der Bevölkerung sein könnte. Gerade im orthodoxen Raum kann man die zunehmende Frömmigkeitstendenz beobachten und diese geht hauptsächlich von der Bevölkerung aus. Die Kirche könnte in solchen Zeiten diese Chance nutzen und ihren Einfluss erhöhen. Gerade so eine Chance sieht die Kirche in der Coronakrise, da in der Gesellschaft Angst, Verwirrung und Zweifel vorhanden sind. Dies führt zu einer Verflechtung von Kirche und Staat und man stellt sich die Frage in wie weit die jeweiligen Staaten in denen dieses Phänomen zustande kommt weiterhin als säkuläre Staaten bezeichnet werden können. Man kann den Grad der Sekularisierung in den jeweiligen Staaten an der Umsetzung der Maßnahmen und Regelungen innerhalb der Kirchen „ohne Gegenwehr“ messen.

In der Ukraine zum Beispiel hört man von einer Vielzahl von Verschwörungstheorien, die behaupten die USA habe das Virus erschaffen und es sei eine biologische Waffe. Generell sind in den östlichen Regionen Theorien dieser Art weit verbreitet. Diese Theorien kommen auch von seitens der Kirche und die Kirche behauptet: „Gott ist bei uns, wir können uns nicht anstecken.“. Deshalb gibt es auch viele illegale Gottesdienste, die zum Beispiel die Mundkommunion weiterführen. Historisch gesehen waren die Kirchen noch nie geschlossen, egal welche Epidemien und Pandemien in der Zeitgeschichte aufkamen. Daher ist die gesamte Situation eine nie dagewesene Herausforderung für die ganze Welt.

VIII – Robert Koch und sein Institut – Der Aufstieg der Bakteriologie und ihrer Kriegsrhetorik, 1880-1918

Lektürebasis:
Christoph Gradmann, Die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde der Menschheit. Bakteriologie, Sprache und Politik im Deutschen Kaiserreich, in: Stefanie Samida (Hg.), Inszenierte Wissenschaft. Zur Popularisierung von Wissen im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011, S. 61-82.

In Zeiten, in denen die Nachrichten wochenlang von Meldungen des Robert Koch-Instituts und dessen Experten dominiert waren, und diese weiterhin und voraussichtlich für viele Monate noch eine der wichtigsten beratenden Stimmen der Bundespolitik sein werden, scheint es angebracht, sich als HistorikerInnen mit dem Hintergrund dieser Institution zu beschäftigen.
Die Auseinandersetzung mit medizinischen Verbrechen während des Dritten Reichs wird dabei vom Institut selbst seit einigen Jahren intensiv gesucht (dazu z.B. Marion Hulverscheidt und Anja Laukötter (Hg.), Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert Koch-Instituts Im Nationalsozialismus, Göttingen 2009). Wichtig ist aber auch die Forschung dazu, auf welchem ideologischen und wissenschaftlichen Fundament diese Verbrechen begangen wurden. Das heißt, noch einen weiteren Schritt zurück zu gehen, und die Entstehung des Instituts im Kontext der Bakteriologie Robert Kochs und der von ihm genutzten Kriegsmetaphorik zu betrachten. (Hierzu maßgeblich: Silvia Berger, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland 1890-1933, Göttingen 2009; sowie Marianne Hänseler, Metaphern unter dem Mikroskop. Die epistemische Rolle von Metaphorik in den Wissenschaften und in Robert Kochs Bakteriologie, Zürich 2009.)

Durch Robert Koch und den Kreis seiner Mitarbeiter wurden ab 1875 die grundlegenden Techniken der mikrobiologischen Laborarbeit entwickelt – Bakterienfärbung, Mikrofotografie, systematische Tierversuche. In rascher Folge wurden damals die Erreger bekannter Infektionskrankheiten wie Cholera, Diphterie oder Tuberkulose identifiziert. Diese Erfolge führten zum Siegeszug der Bakteriologie im Kaiserreich, teils wegen mit ihnen verbundener Erlösungsfantasien, teils, weil die Bakteriologie für den Staat eine attraktive Alternative zum bis dahin von einigen Medizinern (wie Rudolf Virchow) verfochtenen Modell der sozialen Ursachen von Krankheiten darstellte.
Die Koch’sche Bakteriologie dagegen ging von einer „Feindschaft“ von Ärzten und Erreger aus; Krankheitsprozess sowie Kranker wurden daher in der Forschung und ihrer Kommunikation ausgeblendet. Dies zeigte sich in den Schriften Kochs, allerdings auch in der Reaktion der Öffentlichkeit, wie zeitgenössische Karikaturen zeigen, in denen Bakterien anthropomorphisiert wurden, und als listige Gegenspieler der Ärzte dargestellt wurden.

Koch blieb jedoch hinter seinen eigenen Erwartungen zurück; sein Versuch, ein tatsächliches Mittel gegen einen der entdeckten Erreger zu entwickeln, das Tuberkulin, wurde 1891 zu einem medizinischen Skandal. In der Phase der Euphorie über dieses Serum wurde allerdings noch in einer „Jubelsitzung“ des preußischen Landtags im November 1890 die Gründung eines „Königlich Preußischen Instituts für Infektionskrankheiten“ beschlossen, das Robert Koch leiten sollte (und heute nach ihm benannt ist).
Bei der Legitimierung der Finanzierung dieses Unternehmens spielte es eine große Rolle, dass Robert Koch und andere Vertreter der Bakteriologie sich einer Rhetorik bedienten, die sich eines wilhelminisch-militärischen Vokabulars bediente und dadurch als staatstragende Wissenschaft inszenierte.

Wenn Sie sich aber die großen Aufgaben vergegenwärtigen, welche dem Institut [für Infektionskrankheiten] gestellt sind, dann werden Sie selber sagen, daß da mit kleinen Mitteln nichts gemacht werden kann; es muß, wenn der Kampf gegen die Infektionskrankheiten wirksam unternommen werden soll, eine vollständige wissenschaftliche Mobilmachung erfolgen, da darf es in nichts an der Rüstung fehlen.“ – Friedrich Althoff, damals Ministerialdirektor des Kultusministeriums, in der „Jubelsitzung“ des preußischen Landtags am 29.11.1890

Das Ersetzen sachlicher Argumente mit dieser Kriegsrhetorik wurde auch aus der Not heraus geboren, aus einer eigentlich schwachen Position heraus staatliche Subvention zu fordern: die tatsächlichen Maßnahmen gegen Volkskrankheiten blieben gleich (Aufklärung der Bevölkerung, Einrichtung von Krankenhäusern und Heilstätten), während die Bakteriologien sich gleichzeitig als Vorkämpfer eines neuen Paradigmas darstellten. Auch aus dieser Situation heraus forderte Robert Koch 1902 in seinem Aufsatz „Bekämpfung des Typhus“, in die „Offensive“ gegen Krankheitserreger zu gehen, woraufhin der preußische Staat die erste und gleichzeitig bis heute größte bakteriologische Untersuchung einer Bevölkerungsgruppe in der Geschichte durchführte: Im zukünftigen Aufmarschgebiet der deutschen Armee, in den Grenzgebieten zu Frankreich bei Trier, wurden ab 1904 zehn Jahre lang 85 Bakteriologen stationiert, die insgesamt 3,5 Millionen EinwohnerInnen auf typhus abdominalis prüften. Damit verbunden war der „planmäßige Feldzug gegen den Typhus“ und damit die „Reinigung“ des zukünftigen Aufmarschgebiets.

Diese „Offensive“ kulminierte in der Errichtung eines sanitären Grenzwalls, einem Bollwerk aus riesigen Sanierungsanstalten entlang der Ost- und Westgrenze des Reiches. Besondere Angst herrschte vor Osteuropa, vor allem seiner jüdischen Bevölkerung.

Die Hauptgefahr droht wie meist aus dem nahen und fernen Osten […] Dabei muss damit gerechnet werden, dass weder bei den Russen noch bei den Engländern, die in erster Linie diese halbwilden Elemente gegen uns loslassen, etwas Durchgreifendes gegen die Seuchen unternommen wird.“ – Erich Martini, deutscher Sanitätsoffizier, 1915

Im letzten Kriegsjahr wurde die deutsche Grenze osteuropäischen Juden gar ganz verschlossen, weil die Gefahr durch deren „Unsauberkeit“ als zu groß eingeschätzt wurde.

Insgesamt lassen sich aus der Betrachtung dieser Entwicklungen mehrere Thesen fassen:

  1. Kochs Kriegsmetaphorik war für die Bakteriologie konstitutiv: sie ersetzte häufig Argumente und sicherte ihm und seinem Institut Ansehen und finanzielle Förderung (siehe dazu Hänseler 2009).
  2. Die Kriegsrhetorik der wilhelminischen Bakteriologen steigerte die Verklärung des Krieges in der Gesellschaft auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg. Die bakteriologische Vorstellung der vollständigen und permanenten Vernichtung des Feindes als Kriegsziel sowie die scheinbar absolute Unausweichlichkeit dieses Krieges leisteten einen Beitrag zu der Kriegssehnsucht im Kaiserreich.
  3. Die Metaphorisierung des Verhältnisses von Menschen und Mikroben ermöglichte die Gleichsetzung von Menschen mit Mikroben. Das Bild der hinterhältigen, allgegenwärtigen Feinde, wie von Koch entworfen, wurde in letzter Konsequenz zu einer Prämisse der Shoah, während der Juden mit Insektizid umgebracht wurden.

In Bezug auf den letzten Punkt muss betont werden, dass es bestimmte Begriffe und Konnotationen in Bezug auf Slaven und „Ostjuden“ natürlich schon vor den 1890ern gegeben hatte (man denke z.B. an den „Weichselzopf“). Dennoch schaffte die Epoche Kochs eine neue Qualität dieser gefährlichen Vorurteile unter dem Deckmantel der Verwissenschaftlichung antisemitischer Stereotype.

Auch heute noch ist das Thema Kriegsrhetorik in der Medizin ein aktuelles: 2005 fand in den USA ein Workshop des Forum on Microbial Threats des Institute of Medicine mit dem Titel „Ending the War Metaphor“ statt. Fünfzehn Jahre später, während der aktuellen Pandemie, redete der französische Präsident Emmanuel Macron in einer Fernsehansprache zum Thema Covid-19 im März davon, das Land befinde sich „im Krieg“ gegen „einen Feind“ (https://www.youtube.com/watch?v=NO9LZtosHoE). Umso mehr Gründe also, sich die historische Herkunft dieser Rhetorik bewusst zu machen und sie in ihren heutigen Erscheinungsformen kritisch zu betrachten.

VII – Krankheiten und Medien im 19. Jahrhundert am Beispiel der „Russischen Grippe“ und der Cholera in Osteuropa

Basierend auf:

Barbara Dettke, Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Berlin 1995.

pushkin-lit.ru/pushkin/pisma/360.htm

Die Cholera ist eigentlich eine Krankheit, die bei 80% der Betroffenen sehr mild verläuft. Dennoch rief sie bei ihrem erstmaligen Ausbruch im Russländischen Reich einiges an Besorgnis hervor. Dieses erste Auftreten wurde 1823 beschrieben, man sollte allerdings bei solchen im Nachhinein festgeschriebenen Datierungen beachten, dass eine Krankheit möglicherweise schon länger in einem bestimmten Gebiet aufgetreten sein kann, ohne als eine spezifische erkannt zu werden, solange sie den Zeitgenossen in ihrer Bezeichnung noch unbekannt war. Gerade bei einer Brechdurchfallerkrankung mit meist mildem Verlauf wie der Cholera könnte es sein, dass diese schon vor ihrer eindeutigen Entdeckung in Astrachan 1823 im Russländischen Reich aufgetreten war. Trotzdem zeigten viele dortige Ärzte sich damals entsetzt, warnten vor dem Verzehr unreifer Früchte und beklagten sich darüber, dass die Russen Hausmittel dem Arztbesuch vorzögen.

In der Folgezeit verbreitete sich die Seuche im Land. In einem Brief im Oktober 1830 berichtete der russische Dichter Puškin seiner Verlobten Natalija Gončarova davon, dass die Einreise nach Moskau verboten sei und er hoffe, sie sei schon aus der Stadt heraus und aufs Land gefahren, um sich vor dem Ausbruch zu schützen. Er erzählt zwar, eine Frau aus Konstantinopel habe ihm gesagt, nur das „niedere Volk“ würde sich mit der Cholera anstecken, aber es sei seiner Meinung nach trotzdem unerlässlich, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Aus diesem Grund schrieb Puškin besagten Brief auch selbst aus der Quarantäne, die er in Boldino, einem Ort in der Region Nižnij Novgorod, wo seine Familie ein Anwesen besaß, verbrachte. Für ihn war diese Zeit so produktiv, dass sie im biographischen Schreiben über ihn oft als „Boldinoer Herbst“ bezeichnet wird, in dem er beispielsweise sein Werk „Evgenij Onegin“ vollendete.

Für das Russländische Reich allerdings war es eine schwierige Zeit, die über 200.000 Todesopfer forderte. Hinzu kam, dass Zar Nikolaj I. nach dem Ausbruch der Juli-Revolution in Paris im Sommer des Jahres Befürchtungen hegte, auch seine Untertanen könnten durch die ungewissen Zeiten aufgewiegelt werden. Er sollte Recht behalten: Nachdem in Sankt-Petersburg im Juni 1831 innerhalb von nur zwei Wochen 3.000 Menschen an der Cholera starben, stürmte eine wütende Menge aus Wut über das Versagen der Ärzte eine Klinik, in der sie mehrere Angestellte ermordeten. Nikolaj I. fuhr daraufhin zu dem Schauplatz der Zwischenfälle und erklärte den Aufständischen, dass die Cholera eine reale Krankheit sei und keine Verschwörung der Ärzte.

Interessant ist dabei nicht nur, dass sich offensichtlich noch heute die Angst und der Leidensdruck der Bevölkerung während einer Epidemie in Form von Verschwörungstheorien und spontanen öffentlichen Bekundungen der Wut Luft machen, sondern auch, wie währenddessen die Cholera im Westen Europas bezeichnet wurde: als „asiatische Hydra“. Die Hydra als mythologisches Ungeheuer, dem immer ein Kopf nachwächst, sobald man ihm einen abschlägt; und die man also schwer besiegen kann, weil man sie nur gefährlicher macht, solange man gegen sie ankämpft, ist noch heute eine beliebte Metapher für Krankheiten. Das Bild der „asiatischen Hydra“ beinhaltet aber natürlich gleichzeitig das Auslagern eines Feindbilds, vor dessen Ankunft man sich fürchtete. Es war, wie vorherige Texte auf diesem Blog schon gezeigt haben, damals schon ein verbreitetes Muster, Krankheiten und insbesondere Epidemien und Pandemien mit Asien und Osteuropa zu assoziieren.

Dadurch wurde die grippeähnliche Erkrankung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Sankt-Petersburg auftrat, auch weltweit als „Russische Grippe“ bekannt. Auch diese Krankheit zeichnete sich durch eine hohe Morbidität während gleichzeitig niedriger Sterberate aus. Die westeuropäischen Zeitungen reagierten erst mit detailreichen Lageberichten aus verschiedenen Städten, dann vermehrt auch mit Karikaturen, die zeigten, wie gelassen die Bevölkerung auf den Ausbruch reagierte.

Alkohol wurde damals als Heilmittel angepriesen, so wie es im März auch der belarussische Staatspräsident Lukaschenko in Bezug auf Covid-19 tat (https://www.fr.de/politik/weissrussland-ignoranz-autokraten-lukaschenko-13629292.html).
Die Krankheit war außerdem Anlass zu Versuchen der Errichtung von cordons sanitaires innerhalb Europas.

VI Tuberkulose – Eine romantisierte Krankheit

In unserem Seminar „Epidemien und Krisen im östlichen Europa“ beschäftigten wir uns am 8. Juni mit dem Thema Tuberkulose.

Tuberkulose ist bekannt als die „Seuche der städtischen Armen“ und ist bereits so alt wie die Menschheit selbst. Der älteste bewiesene Fund eines Tuberkuloseerkrankten ist 500.000 Jahre alt. Bereits die Ägypter klagten über diese Krankheit. Tuberkulose ist eine bakterielle Infektionskrankheit die zumeist in einer Lungentuberkulose auftritt und Knochen und Wirbel angreift. Erkrankte Arbeiter auf Baustellen wurden „Huster“ genannt. Die Seuche gelangte von Afrika über Asien nach Europa. Die größte Aufmerksamkeit erhielt sie mit Beginn der landwirtschaftlichen Revolution. Der Erreger wurde von Tieren auf Menschen übertragen und fand durch die neuartige Verbindung zwischen Vieh/Haustier und Mensch einen neuen Wirt im Menschen. Vor allem wenn neue Stadtkulturen entstanden und damit neue Ballungsräume, häuften sich die Krankheitsbilder der Tuberkulose.

Im alten Griechenland bezeichnete Hippokrates die Krankheit als „Phitis“, was übersetzt so viel wie „Dahinschwinden“ bedeutet. Deshalb hat Tuberkulose auch den Namen Schwindsucht. Gerade unter der ärmeren Bevölkerung und Sklaven gab es eine weite Verbreitung. Dies ist vor allem den mangelnden Hygienebedingungen und der mangelnden Versorgung an sauberem Wasser und Nahrung zu verschulden. Da Bakteriologie und Virologie relativ neuen Erscheinungen sind, hatten die Menschen früher auch keine Kenntnis darüber wie sich der Erreger weiterverbreitet, wie z.B. durch Tröpfcheninfektion. Während der Christianisierung hatte man sich „angespuckt, um sich vor dem Bösen zu schützen“ was letztendlich für weitere Infektionen sorgte.

Wie auch bei anderen Epidemien und Pandemien in der Geschichte wurden die Infizierten in separate Krankenhäuser außerhalb der Stadt gebracht und in Quarantäne versetzt. Ebenfalls wurden persönliche Gegenstände und Möbel verbrannt.

Tuberkulose stellte lange Zeit einen der häufigsten Todesgründe dar, allerdings nicht nur in den Städten mit dichter Besiedlung, sondern auch auf dem Land. Erst im 19. Jh konnte Tuberkulose von anderen Krankheiten klar abgegrenzt werden als Robert Koch, ein deutscher Mediziner, Mikrobiologe und Hygieniker, 1882 das Tuberkulose-Bakterium entdeckte und herausfand, dass die Krankheit durch Mikroorganismen verursacht wird. Damit gelang es ihm Infektionsweg und Erreger zu identifizieren und ebnete damit den Weg für zukünftige Therapie- und Präventionsmaßnahmen. Eine Heilung war aber noch nicht in Sicht. Hermann Brehmer fand jedoch heraus, dass ausreichend frische Luft und Sonne den Krankheitsverlauf milder gestalteten und so eröffnete er 1852 das erste Sanatorium für systematische Frischlufttherapie.

In der Kultur wurde Tuberkulose in allen Bereichen aufgegriffen. Sowohl Kunst, als auch Literatur beschäftigten sich mit diesem Thema. Auffallend ist jedoch, dass es als eine „romantische Krankheit“ oder „der weiße Tod“ bezeichnet wurde. Durch Kunst und Literatur wurde die Krankheit ästhetisiert und in Werken wie „Die Geburt der Venus“ von Sandro Botticelli oder „Der Zauberberg“ von Thomas Mann verewigt. Die Krankheit wurde in einem stark romantischen Bild dargestellt und die äußerlichen Merkmale wie eine dünne Statur, blasse Haut, rote Wangen und Lippen wurden nach einiger Zeit zu einem Schönheitsideal.

Deshalb fragten wir uns in unserem Seminar, wie kann es dazu kommen, dass eine Infektionskrankheit, die das Todesurteil für einen Infizierten besiegelt, zum Schönheitsideal wird? Wäre es umgekehrt nicht logischer?

Dies könnte mehrere Gründe haben. Zum einen wurde Tuberkulose durch das Aufgreifen in Kunst und Literatur ästhetisiert. Es wurde zu Beginn nicht sofort mit dem Todeseffekt in Zusammenhang gebracht, da der Krankheitsverlauf sich über viele Jahre erstrecken kann. Eine weitere Begründung wäre, dass zum Beispiel im viktorianischen England bereits vorhandene Schönheitsideal mit den äußerlichen Merkmalen der Krankheit überein. Des Weiteren wurde gerade bei Frauen Tuberkulose mit Schwächlichkeit und Kränklichkeit in Verbindung gebracht, was einen gewissen Beschützerinstinkt erweckt haben könnte. Ein weiterer Grund könnte die Verbindung mit dem Stand einer Person sein. Arme Menschen arbeiteten die meiste Zeit draußen auf dem Land auf ihren Feldern, weshalb sie eine gebräunte Hautfarbe hatten, wohingegen wohlhabendere Menschen aus den höheren Ständen mehr Zeit in geschlossenen Räumen verbrachten und eher helle und blasse Haut hatten. Die Ästhetisierung und Romantisierung einer tödlichen Infektionskrankheit wirkt irritierend. Wie kann das Todesurteil eines Menschen diesen attraktiv machen? Wie kann die Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist sich ebenfalls zu infizieren nicht weitaus abstoßender sein? Wie können die äußerlichen Merkmale einer Krankheit zum Schönheitsideal werden? Krankheiten jeglicher Art verbindet man eigentlich mit negativen Bildern und Gefühlen. Dennoch konnte man diesen Trend der Ästhetisierung auch in späteren Epochen beobachten. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Beispiel gab es den „Heroin Chic“-Trend, bei dem das abgemagerte Bild eines heroinabhängigen Menschen vor allem bei Frauen zum Schönheitsideal wurde.

Des Weiteren stellte sich die Frage, wie die Lebensrealität eines Tuberkuloseerkrankten aussah. Wie bereits weiter oben erwähnt, konnte man selbst mit einer ausgebrochenen Tuberkuloseerkrankung trotz allem noch viele Jahre leben. Es kam immer auf den Verlauf und die Schwere der Krankheit. Goethe zum Beispiel musste sein Studium zwischendurch pausieren, wohingegen Kafka erst in den letzten Jahren seines Lebens kürzertreten musste. Meist traf es die ärmere Bevölkerung mit einer besonderen Härte, da diese nicht die Mittel hatten sich ausreichend gegen Epidemien zu schützen. Die Armen lebten auf viel engerem Raum zusammen und in größeren Ballungsräumen. Das kann man aktuell auch während der Coronapandemie beobachten. Gerade in Deutschland hört man vermehrt von Masseninfektionen in Schlachthöfen, Wohngemeinschaften oder ähnlichen Massenzusammenkünften, gerade in denen die Arbeits- und Lebensverhältnisse weit unter dem Durchschnitt liegen. Als Reaktion auf Tuberkulose wurden in der DDR und der Sowjetunion die Lebensbedingungen der Menschen mit modernem Städtebau erheblich verbessert. Verbesserungen wurden vorgenommen in z.B. Infrastruktur, Lebensmittelversorgung und Häuserbau.

Eine der „Heimtücken“ der Tuberkulose ist, dass die Krankheit nicht zwingend ausbrechen muss, man jedoch die ganze Zeit als Träger ansteckend ist. Dies lässt sich mit den asymptomatischen Coronainfizierten vergleichen, die keinerlei oder kaum Symptome haben, jedoch trotzdem weitere Menschen anstecken können. Diese Tatsache stellt ein großes Problem für die Entwicklung von Präventivmaßnahmen gegen Epidemien und Pandemien dar.

Einen großen Unterschied stellt die Ethnisierung der Infektionskrankheiten dar. Corona zum Beispiel wurde als „Chinesische Krankheit“ deklariert und es kam vor allem während der ersten Ausbruchswelle in Europa und den USA zu Fällen von Diskriminierung von als chinesisch vermuteten Menschen. Während vieler Epidemien und Pandemien wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Ethnien als Sündenbock und Schuldenträger dargestellt. Bei der Tuberkulose ist dies jedoch nicht aufgetreten. Da Tuberkulose schon seit langer Zeit auf der Welt besteht, wurde vermutlich nie eine Verbindung zu einer bestimmten Ethnie aufgestellt oder diese wurde im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende vergessen.

V Epidemien und Seuchenbekämpfung in anderen Kulturen: Osmanisches Reich und Japan

Basierend auf: Nükhet Varlik, Plague and Empire in the Early Modern Mediterranean World: The Ottoman Experience, 1347–1600, Cambridge 2015, S. 55-89.
Christopher Aldous, Akihito Suzuki, Reforming Public Health in Occupied Japan, 1945–52: Alien Prescriptions?, London 2011, S. 19-40.

Die Beschäftigung mit historischen Modellen des Umgangs mit Seuchen zeigt immer wieder, dass sich vor dem Siegeszug der modernen Bakteriologie und des damit verbundenen Wissens um Hygiene einige Praktiken durchsetzten, die in sich aus heutiger Sicht widersprüchlich waren, aber trotzdem schon den eingeschlagenen Weg in Richtung medizinischer Klarheit erahnen lassen. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist die Pest im Osmanischen Reich und die Maßnahmen, die gegen sie getroffen wurden.
Dabei ist anzumerken, dass dort in dieser Periode das Problem besteht, dass die Pest in den wichtigsten schriftlichen Quellen, also den Chroniken, nicht dargestellt wurde, weil solche „trivialen“ Themen erstens überhaupt selten Eingang in diese Schriften fanden (die eher politische und militärische Ereignisse festhielten), und weil zweitens diese Epidemie mit dem Aufstieg des Osmanischen Reiches zusammenfiel, und in der damaligen Vorstellung Seuchen und deren Darstellung eher mit dem Niedergang von Imperien verknüpft waren, weshalb man sich damit nicht beschäftigen wollte. (Eine ähnliche Situation des „Schweigens der Quellen“ besteht zum Beispiel in Indien, das ebenso sehr mit Epidemien zu kämpfen hatte, was sich in den dortigen Chroniken allerdings nicht spiegelt.)

Was aber bekannt ist, ist, dass es (ebenso wie beispielsweise in Italien oder Ostmitteleuropa) große öffentlich durchgeführte Gebete gab, um Gott darum zu bitten, die Pest nicht weiter auszubreiten, und dass manche aus betroffenen Gebieten flüchteten (und die Krankheit dadurch natürlich ebenso weiter verbreiteten), um damit vor der „Bestrafung Gottes“ zu fliehen.
Es gab allerdings auch Überlegungen, die schon in Richtungen zeigten, wie sie in vorherigen Beiträgen zur Pest im nördlicheren Europa später eingeschlagen wurden: Es herrschte schon eine Vorstellung davon, dass so etwas wie Ansteckung existiert. Tinkturen aus Essig, eingelegte Zitronen und Orangensaft sollten gegen die Pest helfen, man wusch sich zur Prävention im Hammam (zog danach allerdings wieder die gleiche Kleidung an wie vorher) und hatte auch schon Flöhe im Verdacht, etwas mit Epidemien zu tun zu haben. Allerdings im umgekehrten Sinne, als sich Jahrhunderte später herausstellte: Im Osmanischen Reich galt man noch als frei von der Pest, wenn man Flöhe an sich oder der eigenen Kleidung entdecken konnte, denn das zeigte ja scheinbar, dass sich Lebewesen auf der Haut ansammelten, ohne durch die Pest zu sterben (soweit die Vermutung).

Interessant ist außerdem, dass Reiseberichte europäischer Autoren durch die Wiedergabe des von ihnen beobachteten Umgangs der Osmanen mit der Pest ein Klischee prägten, dass sich im Folgenden sehr lange hielt: Das des passiven oder gar fatalistischen Türken. So wurde beschrieben, dass es weder die in Europa schon bekannten Praxen der Ausräucherung oder Waschung kontaminierter Gegenstände gab, noch wirkliche Vorsichtsmaßnahmen gegen die Pest unternommen wurden. Dies sollte das Osmanische Reich gegen ein Europa kontrastieren, das sich selbst im aktiven Kampf gegen allerlei Krankheiten sehen wollte – insbesondere eben gegenüber dem von Seuchen geplagten Osten.

Genau durch dieses europäische Image wurden im späten 19. Jahrhundert japanische Vertreter einer neuen Gesundheitspolitik vom deutschen Kaiserreich angezogen, um sich dort inspirieren zu lassen, eine völlige Umgestaltung der japanischen öffentlichen Medizin und Hygiene zu veranlassen. Diese war bis dahin eher von traditioneller chinesischer Heilkunst geprägt. Nun aber nahmen Menschen wie Kitasato Shibasaburō Einfluss – ein japanischer Bakteriologe, der in Berlin mit Emil von Behring und Robert Koch zusammenarbeitete und von dem deutschen öffentlichen Bewusstsein für Hygiene beeindruckt war.
In Japan sollte Ähnliches gefördert werden, ganz nach dem Motto, einen mächtigen Staat könne es nur mit einer großen und gesunden Bevölkerung geben. Durch diese Überzeugung formierte sich die neue Hygienepolitik auch mit autoritären Mitteln: Die Einhaltung von Anordnungen zur Impfung und Epidemienprävention wurden durch ein sich formierendes modernes japanisches Polizeisystem kontrolliert, das sich auch genau dadurch erst entwickelte. Es gab nämlich auf Seiten der Herrschenden eine große Angst vor der disruptiven Kraft einer Epidemie in Bezug auf die Gesellschaft – Dynamiken, die wir in heutigen Zeiten wieder beobachten können.

Eine erhebliche Rolle spielte die neue Hygienepolitik im russisch-japanischen Krieg, da dem japanischen Kaiserreich nun bewusst war, dass man ohne öffentliche Gesundheit kein großes Militär erhalten, tausende von Männern kasernieren und letzten Endes einen Krieg gewinnen kann. Der Sieg Japans brachte also Prestige und Glanz auch dank des neuen Umgangs mit Hygienefragen.

Hier sehen wir Andeutungen eines politischen Konflikts, der sich während der aktuellen Pandemie in Europa bemerkbar macht: Den zwischen dem Wunsch jeder Regierung danach, Stärke zu zeigen und Ansehen dadurch zu gewinnen, den vermeintlich besten Umgang mit Covid-19 und die besten Hygienestandards zu haben, und gleichzeitig aber nicht so weit zu gehen, dass einem die eigene Bevölkerung autoritäre Maßnahmen und den Eingriff in die Privatsphäre vorwerfen könnte (wie beispielsweise durch einen Impfzwang, der hierzulande von einigen VerschwörungstheoretikerInnen herbeifantasiert wird).
Die damalige japanische Führung entschied sich mit dem Ausbau des Polizeiapparats natürlich deutlich, heutzutage aber sind Regierungen viel stärker in der Erklärungsnot für jegliche Maßnahmen und deren Aufrechterhaltung.

IV Epidemien und der Staat

2020: Städte und Regionen werden abgeriegelt, Menschen müssen in Quarantäne, Reisewarnungen, Kontaktverbot, Unmengen an Verschwörungstheorien und noch vieles mehr. Die Welt befindet sich in einem Ausnahmezustand. Nicht nur in Deutschland fangen die Menschen an, sich die Frage zu stellen, wie weit der Staat gehen darf. Epidemien sind und waren schon immer eine große Herausforderung für einen Staat und natürlich auch für dessen Bevölkerung. 

Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fällt das Thema Gesundheit immer mehr unter staatliche Kontrolle. Der Staat beginnt zu bestimmen, wie das Volk sich bei Gesundheitsfragen verhalten soll. Gesundheit wird auch durch die Gründung von verschiedenen Institutionen und durch Zeitungen politisiert.

Im 18. Jahrhundert hatten die Staaten in Europa vor allem das Ziel, eine große und gesunde Bevölkerung zu haben. Denn nur ein Staat mit einer großen Bevölkerung galt als reich und mächtig. Um dieses Ziel zu erreichen, hat man zuallererst versucht, Daten über Geburten und Sterbefälle zu sammeln. Es wurden jährlich Volkszählungen durchgeführt. Epidemien und Krisen waren große Gefahren für einen Staat. Wenn die Sterbequote stieg, gefährdete dies den Bevölkerungswachstum und dem Staat gingen Steuern und Militärkräfte verloren. Diese Daten waren auch für die Ressourcenoptimierung wichtig. Somit wurde Gesundheit als Hauptbedingung der Durchsetzbarkeit der politischen Expansionsziele eines Staates erkannt. 

Doch wie genau haben die Staaten das im 18. Jahrhundert umgesetzt? 

Früher waren nur Ärzte für die Gesundheit zuständig. Doch das Medizinalwesen wurde von oben nach unten neu strukturiert. Ganz oben waren die medizinischen Fakultäten, dazwischen standen die amtlichen Ärzte und ganz unten waren Berufsgruppen wie Hebammen, Bader und Apotheker. Auch die sogenannten „Pfuscher“ gehörten zu dieser Gruppe. Das waren Personen aus anderen Berufsgruppen, die aber auch medizinische Operationen durchführten. Amtliche Ärzte betrachteten die Pfuscher als ungebildet und nicht qualifiziert. Sie sahen sie natürlich auch als Konkurrenten. Der Staat bekannte sich auch dazu, Personen, die ohne formale Erlaubnis Kranke gegen Bezahlung behandelten und Medikamente verkauften, strafrechtlich zu verfolgen. In der Praxis sah das aber etwas anders aus. Die königliche Generalmedizinalordnung für das Herzogtum Schlesien von 1744 gab zum Beispiel den Scharfrichtern das Recht, Beinbrüche zu heilen. Auch wenn die Ärzte oft gegen die Duldung ihrer Konkurrenz protestierten, hielt der Staat sich einfach zurück. Das hatte vor allem finanzielle Gründe: Ärzte kosteten dem Staat mehr als Pfuscher.

Nach den großen Pestepidemien kam im 18. Jahrhundert eine neue Seuche nach Europa: die Pocken. Viele Kinder und Säuglinge steckten sich an und nicht wenige kamen ums Leben. Es gab eine Art Impfstoff, welcher sowohl im Orient als auch in England genutzt wurde. In Mitteleuropa waren die Impfgegner vor allem am Anfang in der Überzahl. Sie waren sehr skeptisch gegenüber dieser Methode, da sie Nebenwirkungen befürchteten. Auch wenn es keine offizielle Impfpflicht gab, wurden die Menschen indirekt dazu gezwungen, sich und vor allem ihre Kinder impfen zulassen. Der Staat benutzte Lehrer und Pfarrer dazu, diese Impfungen durchzuführen. Eltern wurden strafrechtlich verfolgt, wenn ihre Kinder nicht geimpft waren und durch Pocken starben. Lehrer und Handwerker durften nur arbeiten, wenn sie sich impfen ließen. 

Wenn wir zurück zu unserer Frage kommen, wie weit der Staat gehen darf, auch wenn es sich um Gesundheit handelt, stellen wir fest, dass es schon damals Skeptiker gab. Angst vor neuen Behandlungsmethoden, Angst vor staatlicher Kontrolle und Angst vor der Eingrenzung der Freiheit. Michel Foucault beschreibt in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ eine Peststadt wie folgt:

„Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfasst, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird – dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.“ 

(Foucault, Überwachen und Strafen, S. 181-190.)

Die Seuche gibt dem Staat die Möglichkeit, die Körper der Bewohner vollständig zu registrieren und ihre Bewegung zu kontrollieren. Individuen werden im Raum erfasst und einem hierarchischen Disziplinarregime unterworfen, indem man ihre Schritte verfolgt und sogar lenkt. Alles wird dokumentiert und der Staat bekommt mehr Macht.

Frevert,U., Krankheit als politisches Prolem 1770-1880, in: H. Berding, J. Kocka, H. Wehler (Hg.), Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Göttingen, 1984, 45-74.

III Die Pest in der Frühen Neuzeit – alte Probleme, neue Lösungen?

Wie bereits in dem vorherigen Beitrag erwähnt, können die Pestepidemien als Mutter aller Pandemien und Epidemien angesehen werden. Nicht nur im 13-14 Jh. hatte die Pest verheerende Auswirkungen in der Bevölkerung. Auch im 17-18 Jh. kehrte die Seuche erneut nach Europa zurück. Gerade aus der Epidemie dieser Zeit können viele Parallelen zu heutigen Situationen gezogen werden, vor allem in Bezug zur aktuellen Lage mit dem Corona-Virus (Sars-CoV2).

In unserem Seminar vom 11. Mai 2020 setzten wir uns deshalb mit der Pestausbreitung in Danzig und Stralsund als Eckpfeiler der erneuten Seuchenwelle auseinander.

Sowohl Danzig als auch Stralsund galten im 17-18. Jh. als wichtige Handelsstädte. Hier verbreitete sich die Pest durch die Nordischen Kriege (1700-1721) rasant im Ostseeraum. Sowohl durch den herrschenden Krieg als auch durch das engmaschige Handelsnetz durchschritten unzählige Menschen die Ostseegebiete und begünstigen damit die Seuchenausbreitung. In Folge der unmittelbaren Gefahr wurden viele Präventionsmaßnahmen für die jeweiligen Städte getroffen. Es gab verstärkte Grenzkontrollen. Der Schiffverkehr wurde zusehends beobachtet. „Infizierte Städte“ wurden in Quarantäne gestellt. Infizierte Bürger wurden in sogenannte Pesthäuser einquartiert und von der Bevölkerung isoliert. Verdachtsfälle mussten umgehend gemeldet werden. Öffentliche Räume wurden regelmäßig gesäubert und Lebensmittelvorräte wurden angelegt. Viele Mediziner versuchten bestimmte Verhaltensregeln für den Umgang mit der Pest zu konzipieren, die zu Beginn jedoch von den höheren Ebenen ignoriert wurden, die das Ausmaß der Situation unterschätzten.

Dieses Phänomen sah man auch in anderen betroffenen Städten dieser Zeit. In Stettin zum Beispiel wurde die Quarantäne in der Stadt erst ausgesprochen, als es keine andere Möglichkeit mehr gab, die Pest einzudämmen. Der Rat wollte den Kaufleuten der Stadt keine Einbußen durch die Quarantäne beschaffen und der ärmeren Bevölkerungsschicht eine Möglichkeit geben, weiterhin an günstige Lebensmittel zu gelangen.

Jedoch entstand damals das Problem, dass die Hansestädte über die jeweiligen anderen behaupteten, die Zustände und die Infektionszahlen wäre weit höher als offiziell angegeben, damit die Händler eher an ihrem Hafen anlegten. Diese „Schwarze Propaganda“ führte zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Hafenstädten.

Die damals weit verbreitete Miasmen-Theorie, die besagt, dass die Erreger einer Krankheit durch Luft und Wasser übertragen werden, war Begründer der getroffenen Maßnahmen der damaligen Zeit. Ein Erklärungsmuster, das bis ins 19. Jh. nicht hinterfragt wurde. Auf Grund dessen wurden Pestleichen außerhalb der Stadt bestattet und teilweise sogar verbrannt. Sogar deren Hab und Gut. Die Isolierung der Infizierten und außerhalb der Stadt angelegte „Pestmärkte“ waren Ergebnis dieser Annahme. Einige Waren wie Wolle oder Kleidung wurden zwei Wochen lang vor der Stadt gelagert, weil man davon ausging, die Erreger würden sich in Textilien länger halten und diese würden nach dieser Zeit „verfliegen“.

Heutzutage ist durch Virologie und Bakteriologie bekannt, dass Krankheitserreger nicht direkt durch „Ausdünstungen“ oder „faulige Prozesse in Luft und Wasser“ entstehen und sich verbreiten, sondern vielmehr durch viele verschiedene Faktoren, wie zum Beispiel Tröpfcheninfektionen und mangelnde Hygiene. Trotzdem waren die getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie bereits damals sinnvoll und die Mediziner waren auf dem richtigen Weg zur Seuchenbekämpfung.

Welche Parallelen kann man schließlich zu heute ziehen?

Die Maßnahmen die getroffen werden, um eine Epidemie zu verhindern oder einzudämmen, sind bis heute dieselben. Aktuell sind weltweit aufgrund des Coronavirus Quarantänemaßnahmen verhängt worden. Infizierte werden in häusliche oder stationäre Quarantäne gesetzt und isoliert. Grenzen zu anderen Ländern wurden geschlossen. Die einzelnen Bürger legten sich Lebensmittelvorräte an und führten sogenannte „Hamsterkäufe“ durch. Nichtverderbliche Lebensmittel wie Nudeln, Reis oder Konserven werden gehortet. Sogar Toilettenpapier und anderen Hygieneartikel bei denen man Angst hatte sie würden einem ausgehen.

Was sagt uns das über das Verhalten in Epidemien über die Jahrhunderte aus? Bereits vor einigen hundert Jahren hatten die Menschen einen Weg gefunden, Katastrophen dieser Art abzuwenden oder den Schaden auf ein Minimum zu reduzieren. Abgesehen von dem medizinischen Fortschritt hat sich also nicht viel geändert. Wirtschaftliche Aspekte spielen in der damaligen und heutigen Zeit eine große Rolle, wie man an dem Beispiel von Stettin sehen kann. Auch heutzutage wollen die einzelnen Länder den Handel nicht einschränken, was aber ebenfalls daran liegt, dass die Länder viel abhängiger voneinander sind als vor einigen hundert Jahren (z.B. Maskenproduktion hauptsächlich in China).

In Danzig gab es einen Autor, der sich den Ausnahmezustand zu Nutze machte und mit „literarischen Überhöhungen“ über, weit mehr als offiziell gemeldete, Todesfälle und unzumutbare Zustände innerhalb der Stadt seine Verkaufszahlen steigern wollte. Dies kann man mit den zahllosen Verschwörungstheorien zum Coronavirus vergleichen, die zum Beispiel auch behaupten die offiziellen Zahlen in China würden nicht der Wahrheit entsprechen. Es ist jedoch sowohl damals, als auch heute nicht bekannt in wie weit diese Schriften der Wahrheit entsprechen und müssten einer genauen Überprüfung unterzogen werden.

Letztendlich stellt man sich die Frage: Waren die Menschen vor 300 Jahren schon so weit fortgeschritten im Umgang mit einer Epidemie oder sind wir in der Zeit stehen geblieben? Was ist an der Stadtgeschichte über die Pest in Danzig und Stralsund modern und was ist alt? Was kann man heutzutage anwenden und was muss noch weiter erforscht werden?

Zapnik Jörg: Pest und Krieg im Ostseeraum. Der „Schwarze Tod“ in Stralsund während des Großen Nordischen Krieges (1700-1721). In: Wernicke, Horst (Hrsg.): Greifswalder Historische Studien. Hamburg. Verlag Dr. Kovac 2007. (Band 7). S.33-41

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