IX – Corona und die orthodoxe Kirche: Resakralisierung der Staaten?

Epidemien und Pandemien gab es bereits während der gesamten Menschheitsgeschichte und haben jeden Winkel der Welt erreicht. Es ist definitiv kein neues Phänomen. Wie wir auch an den früheren Beispielen gemerkt haben, hat sich die Handhabung mit diesen im Wesentlichen nicht verändert. Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung von epidemischen Krankheiten sind weiterhin zum größten Teil geprägt durch die frühzeitige Erkennung und Isolation der Erkrankten. Leider gibt es einige Staaten, Regionen oder religiöse und ethnische Gruppen die dies nicht allzu ernst nehmen. Beispiele hierfür haben wir in unserem Seminar am 06.07.2020 behandelt. Dabei stellten wir uns die Frage wie vor allem die russisch-orthodoxe Kirche auf die Maßnahmen gegen die Corona Pandemie der Staaten reagierte. Hierfür schafften wir uns zuerst einmal einen allgemeinen Überblick über die Lage in den Staaten deren Hauptreligion christlich orthodox ist, wie zum Beispiel Russland, Weißrussland oder die Ukraine. Weiterhin gingen wir auf die Reaktionen zu den Maßnahmen und auf die religiösen Riten ein und verglichen diese mit der Kirche und ihren Reaktionen in Deutschland. Zum Schluss eröffneten wir eine Diskussionsrunde dessen Ergebnisse ich hier erläutern werde.

Erst einmal zur allgemeinen Lage (Stand 06.07.2020):

In Moskau zum Beispiel wurden mehr als die Hälfte aller Infektionen in Russland registriert. Aufgrund der wachsenden Infektionszahlen mit dem Coronavirus wurde von seitens der Gesellschaft weitgehend auf den Gottesdienstbesuch verzichtet und das fast weltweit. Gläubige verfolgten die Liturgie über das Fernsehen oder das Internet, da die Menschen nur zur Arbeit oder in den Supermarkt durften. Nur wenige Menschen besuchten den Gottesdienst, wie z.B. den Ostergottesdienst. Dadurch ist aber gerade bei den christlich orthodoxen Kirchen eine wichtige Einnahmequelle abhanden gegangen. Diese finanzieren sich größtenteils durch den Kerzenverkauf.

Der russische Präsident Wladimir Putin motivierte seinerseits die Bürger zu Hause zu bleiben und zu einem verantwortungsbewussten Verhalten auch seitens der Kirche. Diese rief zu hygienischen Maßnahmen auf, wollte aber ihre Gotteshäuser nicht schließen. Ausschließlich Sonntagsschulen und Gemeindekreise wurden ausgesetzt und die Sozialdienste sollten die älteren Menschen unterstützen. Der Patriarch Kyrill I. bat um Zuversicht und Frieden und rief die Bürger ebenfalls auf zuhause zu bleiben, da die Gottesdienste auch online übertragen werden. Hierbei gab es jedoch ein großes Konfliktpotential. Nach Meinung einiger Priester trauten die Behörden der Kirche nicht zu, die Gläubigen vor Ansteckung zu bewahren und einige Geistliche sind sogar mit den Behörden aneinandergeraten. Ein russischer Priester verwies auf die Trennung von Kirche und Staat und fragte warum Menschen einkaufen, aber nicht in die Kirche dürfen. Die ganze Situation führte zu starken Spannungen zwischen Fundamentalisten und Progressiven. Nachdem jedoch sich jedoch immer mehr Priester infizierten wurden manche nachdenklich. Klostervorsteher Sergiev Posad infizierte sich ebenfalls mit dem Coronavirus und ermahnte nach seiner Genesung, dass auch Priester nicht von der Pandemie verschont wären und sich ebenfalls infizieren können. Daraufhin gab es starke Kritik vom russisch-orthodoxen Klerus.

Trotz der steigenden Infektionen innerhalb der Gotteshäuser, blieben diese weiterhin geöffnet, passten ihre Riten jedoch auf die Hygienemaßnahmen an. Der Löffel für die Kommunion wird zum Beispiel nach jeder Austeilung mit Alkohol desinfiziert und bei der Taufe wird das Wasser ausgewechselt und das Becken desinfiziert. Das Kreuz, dass normalerweise geküsst wird, wird am Schluss der Liturgie lediglich über die Gottesdienstbesucher gehalten und bei der Verteilung des Opferbrotes werden Handschuhe getragen. In der russisch-orthodoxen Kirche ist es üblich die Ikonen mit den Lippen zu berühren. Dies ist aktuell jedoch nicht mehr möglich und die Ikonen werden sicherheitshalber regelmäßig desinfiziert.

In der Bevölkerung ist die Auffassung der Unmöglichkeit sich bei einem Gottesdienstbesuch zu infizieren stark verwurzelt. Viele Gläubige der christlich orthodoxen Kirche sind der festen Überzeugung „alles werde gut mit Gottes Hilfe“. Der weißrussische Präsident Lukaschenko hatte zum Beispiel bereits im Vorfeld jegliche Einschränkungen für religiöse Feiern abgelehnt und setzte sich gegen das russische Patriachat indem er Gottesdienste erlaubt, was starke Kritik in der Bevölkerung und dem Klerus auslöste. Bis Mitte Mai hatten sich 56 aus dem Klerus mit Corona infiziert und sind daraufhin verstorben, was zu einem Umdenken in der Handhabung mit dem Virus in der Kirche führte.

In Deutschland hingegen hat die Kirche den Lockdown von Anfang an mit Überzeugung mitgetragen. In der Kirche werden Masken getragen und alle Hygienevorschriften des Staates eingehalten. Manche Menschen wunderten sich lediglich warum man in der Kirche eine Maske braucht, in einem Wirtshaus jedoch nicht. Dies liegt an dem Aerosolausstoß beim Singen und ist deshalb ein Grund für die Maskenpflicht. Und auch in der Kirche in Deutschland gibt es unterschiedliche Meinungen bezüglich eventueller Lockerungen der Maßnahmen und Hygienevorschriften.

In unserer Diskussion stellten wir fest, dass in der Ukraine ebenfalls eine komplexe Situation vorhanden ist. In der dortigen orthodoxen Kirche herrscht eine starke klösterliche Orientierung und deren Mönche widersetzten sich der vom Staat verhängten Coronamaßnahmen, vor allem diejenigen, die monastiel stark mit dem Moskauer Patriarchat verbunden sind. In der Ukraine gibt es drei große Kirchen: Das Moskauer Patriarchat, das Kiever Patriachat und die ukrainisch-orthodoxe Kirche. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine besitzt keinerlei Klöster und unterscheidet sich grundsätzlich von den beiden anderen Kirchen in ihrer Struktur. Trotzdem besteht ein Konkurrenzverhalten zwischen den dreien woraufhin ein allgemeiner Handlungszwang folgt, der gerade in der Coronakrise sehr auffällig wurde. Dementsprechend versuchten die jeweiligen Kirchen den Gläubigen ihre Gotteshäuser attraktiver zu gestalten.

In Weißrussland hingegen, handelte der Staat erst garnicht, womit die Kirche gar keine Maßnahmen befolgen musste. Sowohl Regierung als auch Bevölkerung waren der Ansicht „Corona gibt es garnicht“ oder „Zu uns kommt das nicht“. Der Präsident betonte sogar, dass in den Kirchen nichts passieren könnte und die Menschen die Gottesdienste weiter besuchen sollten, obwohl dieser als eher atheistisch in der Bevölkerung angesehen wird, da er kaum Gottesdienste besucht. Die weißrussische Kirche ist genau wie der Großteil der ukrainischen Kirchen mit dem Moskauer Patriarchat verbunden. Trotz dessen setzte Lukaschenko die vom Patriarchat vorgegebenen Regelungen in den Kirchen nicht um. Sowohl von seitens Russlands, als auch ganz Europa wurde Belarus kritisiert. Trotz der festen Überzeugung Corona wäre nur erfunden, wurden z.B. Besuche von Partneruniversitäten bereits im März/April abgesagt, da es im Westen so viele Coronafälle gebe und man den Virus nicht einschleppen möchte, was in sich widersprüchlich ist.

Ebenfalls ist man in Weißrussland der Auffassung, dass es nur eine Coronapsychose gebe die mit regelmäßigen Saunagängen und Vodka bekämpft werden könne.

Generell kann man davon ausgehen, dass die Statistiken aller drei Staaten kaum überprüfbar sind, da vor allem in Russland die Todeszahlen verhältnismäßig sehr niedrig sind und wir stellten die Vermutung auf, dass die Zahlen nicht korrekt sein könnten. Der Fokus liegt auch hauptsächlich auf Moskau und St. Petersburg und Zahlen und Berichterstattungen aus anderen Gebieten sind kaum vorhanden.

Wir stellten uns daraufhin die Frage woran dies liegen könnte und brachten die niedrigen Zahlen in Verbindung mit den bevorstehenden Wahlen zur Verfassungsänderung in Russland. Dort sollte abgestimmt werden, ob der Präsident in Zukunft auf Lebenszeit gewählt werden kann. Wären hohe Todeszahlen durch mangelnde Maßnahmen und Regelungen mit der Coronakrise negativ für die Wahl ausgefallen? Hätte man die Wahlen während dieser Zeit überhaupt abhalten können oder dürfen? Mit hohen Todeszahlen wäre dies vermutlich in Frage gestellt worden.

Sowohl Russland, als auch Ukraine und Weißrussland gelten als säkulare Staaten. Vor allem in der Sowjetzeit wurden staatliche Angelegenheiten strikt von der Kirche getrennt. Also wie kommt es überhaupt, dass die orthodoxe Kirche so einen massiven Einfluss auf die heutigen Staaten hat? Warum spielt Religion eine dominante Rolle in den Gesellschaften? Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herrschten Unruhen, Krieg und Chaos in den meisten postsowjetischen Staaten. Im Laufe der Zeit hat man bereits in vielen Teilen der Welt eine Resakralisierung in der Gesellschaft nach schweren Zeiten beobachten können. Jede Gesellschaft reagiert sehr unterschiedlich darauf, jedoch ist sicher, dass dies eine Begründung für den wiederaufkommenden Glauben in der Bevölkerung sein könnte. Gerade im orthodoxen Raum kann man die zunehmende Frömmigkeitstendenz beobachten und diese geht hauptsächlich von der Bevölkerung aus. Die Kirche könnte in solchen Zeiten diese Chance nutzen und ihren Einfluss erhöhen. Gerade so eine Chance sieht die Kirche in der Coronakrise, da in der Gesellschaft Angst, Verwirrung und Zweifel vorhanden sind. Dies führt zu einer Verflechtung von Kirche und Staat und man stellt sich die Frage in wie weit die jeweiligen Staaten in denen dieses Phänomen zustande kommt weiterhin als säkuläre Staaten bezeichnet werden können. Man kann den Grad der Sekularisierung in den jeweiligen Staaten an der Umsetzung der Maßnahmen und Regelungen innerhalb der Kirchen „ohne Gegenwehr“ messen.

In der Ukraine zum Beispiel hört man von einer Vielzahl von Verschwörungstheorien, die behaupten die USA habe das Virus erschaffen und es sei eine biologische Waffe. Generell sind in den östlichen Regionen Theorien dieser Art weit verbreitet. Diese Theorien kommen auch von seitens der Kirche und die Kirche behauptet: „Gott ist bei uns, wir können uns nicht anstecken.“. Deshalb gibt es auch viele illegale Gottesdienste, die zum Beispiel die Mundkommunion weiterführen. Historisch gesehen waren die Kirchen noch nie geschlossen, egal welche Epidemien und Pandemien in der Zeitgeschichte aufkamen. Daher ist die gesamte Situation eine nie dagewesene Herausforderung für die ganze Welt.

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