II Die Pestepidemie von 1345/53 – Erklärungsmechanismen und die Frage der Schuld

„Chinesisches Virus“ nannte Donald Trump das neuartige Corona-Virus (Sars-CoV2), das aus der chinesischen Stadt Wuhan stammen soll. Viele beteiligen sich weltweit an dem China-Bashing. In den Sozialen Medien vor allem, werden Hassbeiträge verbreitet, in denen behauptet wird, die Essenskultur oder die mangelnde Hygiene in Asien wären daran schuld, dass das Virus sich in der Welt verbreitet. Die Welt hat es aber nicht zum ersten Mal mit einer Epidemie zutun. 

Die großen Pestepidemien prägten die europäische Geschichte im Mittelalter und können auch als Mutter aller Pandemien bezeichnet werden. Auch wenn die Zahlen für die damalige Zeit etwas kritisch zu betrachten sind, geht man davon aus, dass 25 Millionen Menschen gestorben sind und damit 1/3 der europäischen Bevölkerung ausgelöscht wurde. Interessanterweise hatte die Pest nicht so große Auswirkungen in Asien wie in Europa. In Indien gab es zu dieser Zeit sogar ein Bevölkerungswachstum, was vielleicht auf die geringe Bevölkerungsdichte zurückzuführen ist.

Wie wir heute wissen, wurde die Pest über Flöhe im Fell von Ratten verteilt und kann von Mensch zu Mensch übertragen werden. Die Pest kam im Mittelalter ähnlich wie die Grippewelle immer wieder vor. Oft wurden auch andere Krankheiten wie zum Beispiel die Cholera fälschlicherweise als Pest bezeichnet.

Italien war das erste Land im westlichen Europa, das mit der Pest konfrontiert wurde. Vermutlich war zuerst Sizilien betroffen und dann Genua und Venedig. Aus den großen Hafenstädten kam die Pest ins Landesinnere. Die einzige Stadt, die sich weitestgehend schützen konnte, war Mailand. Die Stadt hatte sich komplett von der Außenwelt abgeschottet.

Die Folgen waren für die Hafenstädte gravierend. Der Handel brach ein. In Venedig gab es eine Warenquarantäne. Waren, die ankamen, wurden mehrere Wochen nicht angerührt. Neben den wirtschaftlichen Folgen waren auch die gesellschaftlichen Folgen groß. Den Menschen ging es nur noch darum, zu überleben. Rücksicht gegenüber anderen trat in den Hintergrund. Es herrschte Angst. Man wusste nicht, wer sich wann und wie anstecken würde. Familienangehörige nahmen Abstand voneinander. Menschen aus anderen Berufsgruppen wurden als Ärzte eingesetzt. In Venedig wurden Pestinseln gefertigt um Leichen und Infizierte zu isolieren. Da es sich aber um eine Hafenstadt handelt, zeigte auch dies nicht die erhoffte Wirkung. Die Menschen stellten fest, dass auch Adelige und Geistliche starben und waren darüber bestürzt. Viele glaubten, der jüngste Tag sei gekommen. Im Jubeljahr 1350, bei dem der Papst den Gläubigen einen vollständigen Ablass versprach, stürmten tausende Christen nach Rom. Dieses Ereignis beschleunigte die Verbreitung der Pest in Europa.

Für Italien war der Pestverlauf sehr verheerend. In manchen Städten starben bis zu 70% der Bevölkerung. Was wir heute sicher wissen, ist, dass 30-50% der italienischen Bevölkerung die Pestepidemie nicht überlebte. 

Wo die Pest ihren Ursprung hatte wurde schon im Mittelalter heftig diskutiert. Laut einer Theorie hatten die Mongolen die Pest aus China nach Europa gebracht. Als sie 1347 die Stadt Kaffa belagerten, hätten sie ihre infizierten Leichen in die Stadt gebracht, damit sich die Pest dort verbreitet. Von dort aus sei die Pest nach Europa gekommen. Eine andere Theorie, die auf dem traditionellen europäischen Antijudaismus aufbaute, gab der jüdischen Bevölkerung die Schuld. Sie hätten die Brunnen vergiftet und somit die Verbreitung der Krankheit ausgelöst. Es gab vor allem in Frankreich und Deutschland mehrere Pogrome gegen Juden. Sie wurden verfolgt, vertrieben, gefoltert und ermordet.

Doch was steckt hinter diesen Theorien und was sagt die moderne Wissenschaft?

Was wir sicher wissen ist, dass es die Pest bereits im Jahr 1300 in China gab. Somit ist eigentlich sicher, dass die Pest aus China stammt. Europa und Asien waren schon im Mittelalter sowohl über die Seidenstraße als auch über den Seeweg verbunden. Auch wenn die Mongolen durch ihre Herrschaft erreicht hatten, dass die beiden Kulturräume sich enger verbanden, gibt es keinerlei Beweise dafür, dass sie eine Mitschuld an der Verbreitung der Krankheit trugen. Die Pest könnte auch über Handelsschiffe aus dem indischen Ozean gekommen sein.

Die Judenverfolgungen wiederum haben einen anderen Hintergrund. Die Menschen, die an den Pogromen beteiligt waren, waren bei Juden verschuldet und interessant ist auch, dass die Verfolgungen ihren Anfang nicht zu den Zeiten der Pest hatten, sondern viel früher. Die sogenannte Rintfleisch-Verfolgung, bei der ein Metzger namens Rintfleisch in Franken gemeinsam mit seinen Gefolgsleuten bis zu 5000 Juden ermordete, fand im Jahr 1298 statt. Auch dieses Pogrom hatte den Hintergrund, dass die Beteiligten bei Juden hochverschuldet waren. Auch wenn die herrschende Oberschicht nicht an die Gerüchte glaubte, schwieg sie, und die Juden wurden zu Sündenböcken gemacht und geopfert. Die Pest, die später kam, war also nicht der Auslöser, sondern einfach nur noch eine Ausrede dafür, um die Juden zu beschuldigen. Menschen neigen eben dazu, einen Sündenbock zu finden. Damals sowie heute.

Haverkamp, Alfred, Zur Geschichte der Juden in Deutschland des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 27-93.

Bergdolt, Klaus, Der Schwarze Tod in Europa, München 2017, S. 7-10.

I – Hierarchien und der „Kampf“ gegen das Virus

„An der Wahrnehmung und Bekämpfung von Seuchen lässt sich den Aushandlungen sozialer Normen, Hierarchien und Ordnungsvorstellungen im historischen Wandel nachspüren.“ – Malte Thießen

Unsere erste Seminarsitzung fand auf Grundlage zweier Texte statt, hier nachzulesen:

Jörg Vögele, Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive, in: Epidemien und Pandemien in historischer Perspektive. Epidemics and Pandemics in Historical Perspective. Hg. v. Jörg Vögele [u.a.]. Wiesbaden 2016, S. 3-32 [stärker medizinhistorische Einführung]; Malte Thießen, Infizierte Gesellschaften. Sozial- und Kulturgeschichte von Seuchen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), S. 11-18. (online unter: https://www.bpb.de/apuz/206108/infizierte-gesellschaften-sozial-und-kulturgeschichte-von-seuchen)

Der erste Denkanstoß für unsere Gruppe war Malte Thießens Aussage, Seuchengeschichte sei ein „Seismograf des Sozialen, mit dem die Tektonik von Gesellschaften und ihre Verwerfungen sichtbar werden“. Dies führte uns zu der Frage, ob aufgrund der Deutungshoheit der Situation durch Virologen momentan nicht eindeutige Wissenshierarchien entstünden (die eben unter anderem auch dazu führen, dass HistorikerInnen in der aktuellen Diskussion keine Stimme haben). Auch in anderen Bereichen entstehen oder verschärfen sich Hierarchien: Die Beschäftigung mit sogenannten failed states entfaltet eine neue Dynamik, da Bilder der am meisten betroffenen und am ungenügendsten vorbereiteten Regionen durch die Nachrichten gehen, und der Umgang mit Covid-19 zum Kriterium für staatliches Leistungsvermögen wird. Außerdem können Pandemien auch als Identitätsstiftung dienen: Nicht nur im verstärkten Wahrnehmen von „wir drinnen, die Anderen draußen, und das ist auch besser so“ wie im Falle des Flüchtlingscamps Moria auf der griechischen Insel Lesbos; sondern auch in viel basaleren, neuen und dynamischen Identitäten, die sogar Gräben quer durch Familien ziehen können, nämlich die von „krank“ und „nicht-krank“.

Des Weiteren gab es geschichtlich gesehen auch eine Tendenz, den Ursprung von Seuchen dem Osten zuzuschreiben und dies vor allem auf einer christlich-deutschen, häufig auch einer dezidiert protestantischen Identität zu basieren; die Bevölkerungen aus östlicheren Längengraden als „schmutzig“ wahrzunehmen, weil sie katholisch, orthodox oder sogar „nicht einmal“ christlich sind.

Wenn wir schon von Schuldzuweisungen und Vorurteilen sprechen: Die Herkunft des Sündenbockbedürfnisses wurde ebenso in unserer Debatte angeschnitten, weil es selbstverständlich sowohl historisch als auch aktuell im Zusammenhang mit der Verbreitung von Krankheiten immer eine Rolle spielt. Wir fragten uns dabei, ob die Suche nach einem Sündenbock in diesem Kontext darin begründet sei, dass es gut tue, das Unsichtbare (Viren) vermeintlich sichtbar zu machen, indem man es externalisiere. Denn zu einem ähnlichen Schluss kamen wir im Hinblick auf die Kriegsrhetorik, die man, gerade in der politischen Führungsriege, hören kann: Die Rede vom „Kampf“ gegen das Virus dient der Visualisierbarkeit desselben, sie soll ihn greifbar machen. Außerdem können PolitikerInnen durch diese Redensweise Stärke demonstrieren und nicht zuletzt durch die Assoziation zu einem Kriegsfall öffentliche Einschränkungen unter Umständen besser legitimieren.

Denn die Bedrohung, die gefühlt von einer Epidemie ausgeht, basiert ja nicht ausschließlich auf der reinen Anzahl der Toten – sonst könnte man ebenso „gesellschaftliche Epidemien“ wie Alkoholmissbrauch, Tabakkonsum oder Krankenhausinfektionen mit extrem hohen Sterberaten als existenzielle Gefahren betrachten. Doch dem ist nicht der Fall – wieso genau? Was ist das politische und soziale Alleinstellungsmerkmal einer Pandemie, und welche Rolle spielte Seuchenbekämpfung für Entstehung und Konsolidierung von Staaten? Und kann man vielleicht sogar sagen: „Der Staat entsteht auch aus der Epidemie heraus“?

Vielleicht werden wir der Beantwortung dieser Fragen in der nächsten Sitzung ein Stück näherkommen!

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