IV Epidemien und der Staat

2020: Städte und Regionen werden abgeriegelt, Menschen müssen in Quarantäne, Reisewarnungen, Kontaktverbot, Unmengen an Verschwörungstheorien und noch vieles mehr. Die Welt befindet sich in einem Ausnahmezustand. Nicht nur in Deutschland fangen die Menschen an, sich die Frage zu stellen, wie weit der Staat gehen darf. Epidemien sind und waren schon immer eine große Herausforderung für einen Staat und natürlich auch für dessen Bevölkerung. 

Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fällt das Thema Gesundheit immer mehr unter staatliche Kontrolle. Der Staat beginnt zu bestimmen, wie das Volk sich bei Gesundheitsfragen verhalten soll. Gesundheit wird auch durch die Gründung von verschiedenen Institutionen und durch Zeitungen politisiert.

Im 18. Jahrhundert hatten die Staaten in Europa vor allem das Ziel, eine große und gesunde Bevölkerung zu haben. Denn nur ein Staat mit einer großen Bevölkerung galt als reich und mächtig. Um dieses Ziel zu erreichen, hat man zuallererst versucht, Daten über Geburten und Sterbefälle zu sammeln. Es wurden jährlich Volkszählungen durchgeführt. Epidemien und Krisen waren große Gefahren für einen Staat. Wenn die Sterbequote stieg, gefährdete dies den Bevölkerungswachstum und dem Staat gingen Steuern und Militärkräfte verloren. Diese Daten waren auch für die Ressourcenoptimierung wichtig. Somit wurde Gesundheit als Hauptbedingung der Durchsetzbarkeit der politischen Expansionsziele eines Staates erkannt. 

Doch wie genau haben die Staaten das im 18. Jahrhundert umgesetzt? 

Früher waren nur Ärzte für die Gesundheit zuständig. Doch das Medizinalwesen wurde von oben nach unten neu strukturiert. Ganz oben waren die medizinischen Fakultäten, dazwischen standen die amtlichen Ärzte und ganz unten waren Berufsgruppen wie Hebammen, Bader und Apotheker. Auch die sogenannten „Pfuscher“ gehörten zu dieser Gruppe. Das waren Personen aus anderen Berufsgruppen, die aber auch medizinische Operationen durchführten. Amtliche Ärzte betrachteten die Pfuscher als ungebildet und nicht qualifiziert. Sie sahen sie natürlich auch als Konkurrenten. Der Staat bekannte sich auch dazu, Personen, die ohne formale Erlaubnis Kranke gegen Bezahlung behandelten und Medikamente verkauften, strafrechtlich zu verfolgen. In der Praxis sah das aber etwas anders aus. Die königliche Generalmedizinalordnung für das Herzogtum Schlesien von 1744 gab zum Beispiel den Scharfrichtern das Recht, Beinbrüche zu heilen. Auch wenn die Ärzte oft gegen die Duldung ihrer Konkurrenz protestierten, hielt der Staat sich einfach zurück. Das hatte vor allem finanzielle Gründe: Ärzte kosteten dem Staat mehr als Pfuscher.

Nach den großen Pestepidemien kam im 18. Jahrhundert eine neue Seuche nach Europa: die Pocken. Viele Kinder und Säuglinge steckten sich an und nicht wenige kamen ums Leben. Es gab eine Art Impfstoff, welcher sowohl im Orient als auch in England genutzt wurde. In Mitteleuropa waren die Impfgegner vor allem am Anfang in der Überzahl. Sie waren sehr skeptisch gegenüber dieser Methode, da sie Nebenwirkungen befürchteten. Auch wenn es keine offizielle Impfpflicht gab, wurden die Menschen indirekt dazu gezwungen, sich und vor allem ihre Kinder impfen zulassen. Der Staat benutzte Lehrer und Pfarrer dazu, diese Impfungen durchzuführen. Eltern wurden strafrechtlich verfolgt, wenn ihre Kinder nicht geimpft waren und durch Pocken starben. Lehrer und Handwerker durften nur arbeiten, wenn sie sich impfen ließen. 

Wenn wir zurück zu unserer Frage kommen, wie weit der Staat gehen darf, auch wenn es sich um Gesundheit handelt, stellen wir fest, dass es schon damals Skeptiker gab. Angst vor neuen Behandlungsmethoden, Angst vor staatlicher Kontrolle und Angst vor der Eingrenzung der Freiheit. Michel Foucault beschreibt in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ eine Peststadt wie folgt:

„Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfasst, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird – dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage.“ 

(Foucault, Überwachen und Strafen, S. 181-190.)

Die Seuche gibt dem Staat die Möglichkeit, die Körper der Bewohner vollständig zu registrieren und ihre Bewegung zu kontrollieren. Individuen werden im Raum erfasst und einem hierarchischen Disziplinarregime unterworfen, indem man ihre Schritte verfolgt und sogar lenkt. Alles wird dokumentiert und der Staat bekommt mehr Macht.

Frevert,U., Krankheit als politisches Prolem 1770-1880, in: H. Berding, J. Kocka, H. Wehler (Hg.), Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Göttingen, 1984, 45-74.

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