VII – Krankheiten und Medien im 19. Jahrhundert am Beispiel der „Russischen Grippe“ und der Cholera in Osteuropa

Basierend auf:

Barbara Dettke, Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien, Berlin 1995.

pushkin-lit.ru/pushkin/pisma/360.htm

Die Cholera ist eigentlich eine Krankheit, die bei 80% der Betroffenen sehr mild verläuft. Dennoch rief sie bei ihrem erstmaligen Ausbruch im Russländischen Reich einiges an Besorgnis hervor. Dieses erste Auftreten wurde 1823 beschrieben, man sollte allerdings bei solchen im Nachhinein festgeschriebenen Datierungen beachten, dass eine Krankheit möglicherweise schon länger in einem bestimmten Gebiet aufgetreten sein kann, ohne als eine spezifische erkannt zu werden, solange sie den Zeitgenossen in ihrer Bezeichnung noch unbekannt war. Gerade bei einer Brechdurchfallerkrankung mit meist mildem Verlauf wie der Cholera könnte es sein, dass diese schon vor ihrer eindeutigen Entdeckung in Astrachan 1823 im Russländischen Reich aufgetreten war. Trotzdem zeigten viele dortige Ärzte sich damals entsetzt, warnten vor dem Verzehr unreifer Früchte und beklagten sich darüber, dass die Russen Hausmittel dem Arztbesuch vorzögen.

In der Folgezeit verbreitete sich die Seuche im Land. In einem Brief im Oktober 1830 berichtete der russische Dichter Puškin seiner Verlobten Natalija Gončarova davon, dass die Einreise nach Moskau verboten sei und er hoffe, sie sei schon aus der Stadt heraus und aufs Land gefahren, um sich vor dem Ausbruch zu schützen. Er erzählt zwar, eine Frau aus Konstantinopel habe ihm gesagt, nur das „niedere Volk“ würde sich mit der Cholera anstecken, aber es sei seiner Meinung nach trotzdem unerlässlich, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Aus diesem Grund schrieb Puškin besagten Brief auch selbst aus der Quarantäne, die er in Boldino, einem Ort in der Region Nižnij Novgorod, wo seine Familie ein Anwesen besaß, verbrachte. Für ihn war diese Zeit so produktiv, dass sie im biographischen Schreiben über ihn oft als „Boldinoer Herbst“ bezeichnet wird, in dem er beispielsweise sein Werk „Evgenij Onegin“ vollendete.

Für das Russländische Reich allerdings war es eine schwierige Zeit, die über 200.000 Todesopfer forderte. Hinzu kam, dass Zar Nikolaj I. nach dem Ausbruch der Juli-Revolution in Paris im Sommer des Jahres Befürchtungen hegte, auch seine Untertanen könnten durch die ungewissen Zeiten aufgewiegelt werden. Er sollte Recht behalten: Nachdem in Sankt-Petersburg im Juni 1831 innerhalb von nur zwei Wochen 3.000 Menschen an der Cholera starben, stürmte eine wütende Menge aus Wut über das Versagen der Ärzte eine Klinik, in der sie mehrere Angestellte ermordeten. Nikolaj I. fuhr daraufhin zu dem Schauplatz der Zwischenfälle und erklärte den Aufständischen, dass die Cholera eine reale Krankheit sei und keine Verschwörung der Ärzte.

Interessant ist dabei nicht nur, dass sich offensichtlich noch heute die Angst und der Leidensdruck der Bevölkerung während einer Epidemie in Form von Verschwörungstheorien und spontanen öffentlichen Bekundungen der Wut Luft machen, sondern auch, wie währenddessen die Cholera im Westen Europas bezeichnet wurde: als „asiatische Hydra“. Die Hydra als mythologisches Ungeheuer, dem immer ein Kopf nachwächst, sobald man ihm einen abschlägt; und die man also schwer besiegen kann, weil man sie nur gefährlicher macht, solange man gegen sie ankämpft, ist noch heute eine beliebte Metapher für Krankheiten. Das Bild der „asiatischen Hydra“ beinhaltet aber natürlich gleichzeitig das Auslagern eines Feindbilds, vor dessen Ankunft man sich fürchtete. Es war, wie vorherige Texte auf diesem Blog schon gezeigt haben, damals schon ein verbreitetes Muster, Krankheiten und insbesondere Epidemien und Pandemien mit Asien und Osteuropa zu assoziieren.

Dadurch wurde die grippeähnliche Erkrankung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Sankt-Petersburg auftrat, auch weltweit als „Russische Grippe“ bekannt. Auch diese Krankheit zeichnete sich durch eine hohe Morbidität während gleichzeitig niedriger Sterberate aus. Die westeuropäischen Zeitungen reagierten erst mit detailreichen Lageberichten aus verschiedenen Städten, dann vermehrt auch mit Karikaturen, die zeigten, wie gelassen die Bevölkerung auf den Ausbruch reagierte.

Alkohol wurde damals als Heilmittel angepriesen, so wie es im März auch der belarussische Staatspräsident Lukaschenko in Bezug auf Covid-19 tat (https://www.fr.de/politik/weissrussland-ignoranz-autokraten-lukaschenko-13629292.html).
Die Krankheit war außerdem Anlass zu Versuchen der Errichtung von cordons sanitaires innerhalb Europas.

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