XII – Fazit und Thesen

Nach einem Semester der Beschäftigung mit Epidemien in historischer Perspektive, während die Welt um uns herum gleichzeitig aktuell mit einer Pandemie kämpft, gibt es einige abschließende Beobachtungen, die wir als (angehende) Geschichtswissenschaftlerinnen zu laufenden Debatten beitragen können.
Erstens die Feststellung, dass Epidemien eher eine historische Normalität darstellen, als einen Sonderfall. Der Umgang mit ihnen aber ist es, der sich in den letzten hunderten Jahren deutlich verändert hat. Wobei, hat er das tatsächlich so grundlegend?
Vor dem Aufkommen der Bakteriologie etablierten sich vor allem Isolierungs- und Distanzierungsmaßnahmen (Quarantänen, Ausgeh- und Kontaktverbote), um Infektionsdynamiken einzudämmen. Auch heute sind dies noch die populärsten (weil effektivsten) Instrumente der Exekutive, welche in Krisenzeiten wie dieser unwillkürlich die Stunde ihrer größten Vollmachten erlebt. Krankheitsvorbeugungen der Vergangenheit wie das auf der Miasmen-Theorie aufbauende Ausräuchern der „schlechten“ Luft (Vgl. Beitrag III: „Die Pest in der Frühen Neuzeit – alte Probleme, neue Lösungen?“) oder das Gurgeln mit bestimmten Tinkturen (Vgl. Beitrag V: „Epidemien und Seuchenbekämpfung in anderen Kulturen: Osmanisches Reich und Japan“) scheinen unaufgeklärten Epochen anzugehören. Allerdings tauchten im März in zahlreichen europäischen Staaten Falschmeldungen im Internet auf, die darüber berichteten, das Rauchen von Zigaretten oder das regelmäßige Gurgeln mit Salzwasser oder Essig könnten Covid-19-Viren abwehren oder gar abtöten. (Zur Analyse der Desinformationsströme in Europa: https://covidinfodemiceurope.com/.) Als Historikerin fragt man sich hier: Gibt es etwa eine Art archaisches Kollektivgedächtnis, aus dem Miasmen und Tinkturen doch nicht so einfach zu vertreiben sind?
Ein solches kollektives Gedächtnis zeigt sich gerade in Zeiten der Unsicherheit, in denen nicht nur solche relativ harmlosen Falschinformationen wie zu Beginn der derzeitigen Pandemie, sondern auch, wie in den letzten Monaten zunehmend, Verschwörungstheorien und sogar mittelalterliche Legenden von Ritualmorden und geheimen Mächten, übersetzt in die Sprache des 21. Jahrhunderts, zunehmend in Umlauf gerieten (Vgl. Beitrag XI: „Covid-19 und Verschwörungstheorien – Das Geschichtsverständnis der Corona-LeugnerInnen in Deutschland“).

Solcherlei auftretende Narrative sind eng verbunden mit gesellschaftlichen und individuellen Ängsten – eine Geschichte der Angst müsste Teil einer Geschichte der Epidemien sein, und umgekehrt. Vor allem Bewältigungsstrategien gegen aufkommende Panik sind während Pandemie-Szenarien zu beobachten. Sozialgeschichtlich gibt es zwar keine eindeutige Evidenz dafür, dass Epidemien gesellschaftliche Unruhen, Aufstände und Proteste produzieren (Vgl. Beitrag II), allerdings beobachten wir bis heute die erwähnten Rückgriffe auf obsolet geglaubte Heilmittel und Ideologien, wenn es darum geht, die Komplexität einer solchen Bedrohungssituation zu bewältigen. Auf der sprachlichen Ebene halten sich außerdem von der Politik genutzte militärische Analogien, wenn es um die Kommunikation und Rechtfertigung von Hygiene-Maßnahmen gegenüber der Bevölkerung geht: insbesondere der französische Staatspräsident Macron fiel durch Rekurse auf martialische Bildsprache Anfang des Jahres auf (https://de.ambafrance.org/Fernsehansprache-von-Staatsprasident-Emmanuel-Macron-zum-Coronavirus-Covid-19). In Deutschland ist diese Begriffsebene aufgrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts nur abgeschwächt vertreten (Vgl. Beitrag VIII), taucht jedoch ebenfalls auf (weniger auf der offiziellen Ebene, sondern eher in Meinungsbeiträgen wie z.B. diesem Kommentar in der FAZ vom 04.07.2020: https://www.faz.net/aktuell/wissen/was-kann-der-schon-der-virologe-16838942.html).

Eine weitere „Bewältigungsstrategie“ stellt die Externalisierung von Krankheit und „Unsauberkeit“ dar (Vgl. Beitrag I). Das östliche Europa und Asien wurden in besonderem Maße mit Krankheiten verbunden und spätestens seit dem 18. Jahrhundert als hygienisches Notstandsgebiet und Ansteckungsraum kategorisiert (Vgl. Beiträge II, V, VII, VIII).
Dass diese alten Schablonen vielfach aufgegriffen und fortgeschrieben wurden, zeigt sich auch während der derzeitigen Pandemie: China als Ursprungsort von Covid-19 wurde exotisiert und diffamiert, (vermeintliche) chinesische ImmigrantInnen sahen sich als Sündenböcke Bedrohungen und Beleidigungen ausgesetzt (https://time.com/5858649/racism-coronavirus/). Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass Epidemien schon seit dem 19. Jahrhundert immer mehr zu globalen Medienereignissen wurden (Vgl. Beitrag VII, X), und dies nun, im Internetzeitalter, wie schon geschildert, zu unkontrollierbaren fake news-Dynamiken und aufkommendem Hass führt, der sich von der digitalen in die analoge Welt übertragen kann.

Insgesamt nimmt die Bedeutung von Epidemien als Erklärungsmodell für historische Prozesse aufgrund der Verschiebung von einer reinen Ereignisgeschichte hin zu strukturellen Diskursbetrachtungen eher ab. Während der aktuellen Pandemie tauchen allerdings neue Phänomene wie Querfront-Proteste auf (Vgl. Beitrag XI), und bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, die eine solche Krise mit sich bringen, werden erstmals stärker beobachtet und mitbedacht: dass Frauen die größten „Verliererinnen“ der Corona-Zeit sind, wird schon jetzt postuliert. Sie waren durch den Lockdown der deutlichsten Mehrfachbelastung durch Home Office und Ausfall der Kinderbetreuung ausgesetzt, machen den Großteil der „systemrelevanten“ Arbeitskräfte in Pflege und Grundversorgung aus; außerdem stiegen die Fälle häuslicher Gewalt und viele Prostituierte verloren häufig nicht nur ihre Überlebensgrundlage, sondern auch ihre Wohnmöglichkeiten (https://taz.de/Corona-ist-weiblich/!5670768/, https://www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-5049, https://www.unwomen.de/helfen/helfen-sie-frauen-in-der-corona-krise/corona-eine-krise-der-frauen.html). Diese Probleme wird es auch in der Vergangenheit aufgrund von Seuchen gegeben haben, doch eine Geschlechtergeschichte der Epidemien bleibt, wie so vieles, noch zu schreiben.

Wir hoffen, mit diesem Blog zumindest einige verschiedene historische Aspekte von Epidemien beleuchtet, ihre Bezüge zur Gegenwart verdeutlicht, und zur weiteren Diskussion angeregt zu haben. Zum Abschluss bleibt uns wiederum nur der Wunsch:
Bleibt gesund!

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